Die Zeit zwischen dem 24. Dezember und 6. Januar, von Heiligabend bis Heilig-Drei-König, gilt in weiten Teilen Europas als eine feierliche Zeit, die mit allerlei Festen, Traditionen und Sagen in Verbindung steht. Ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit und Bereitschaft genügt bis heute, um den stillen Zauber dieser Tage, die wir als die Rauhnächte kennen, wirksam werden zu lassen. Für mich persönlich stellen sie seit jeher den wichtigsten Fixpunkt im Jahreslauf dar und bilden den Rahmen vieler prägender Erinnerungen. Im Folgenden will ich einige Gedanken zum Wesen dieser Zeit zusammenstellen und versuchen, ihm durch die Zusammenschau verschiedener Aspekte der Überlieferung näher zu kommen.
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Rauhnacht – das ist die Zeit zwischen den Jahren
Die zwölf Nächte, die das alte Jahr mit dem neuen verbinden und als rätselhafte Schwellenzeit zwischen lunarem und solarem Jahreszyklus stehen, sind Zeit außerhalb der Zeit. In diesen Tagen kommt der unerbittliche Lauf des Rades für eine Weile zum Stillstand, der Eindruck der gleichförmig ablaufenden, verrinnenden Zeit schwindet und der Mensch erhält wieder Eintritt in jene geweihte, mythische Zeit, die dem unablässigen Werden und Vergehen als ewig in sich selbst ruhendes Urbild vorausgesetzt bleibt. Hier ereignet sich die „Vernichtung“ der Zeit als solcher und der lineare geschichtliche Prozess wird aufs Neue zum Kreislauf geknüpft, in dem Anfang und Endpunkt in Eines fallen. Dieses Opfer spendet Linderung und Zuversicht, da es zugleich das Unveränderliche verbürgt und den Neuanfang verspricht.
Da die heilige Zeit den Quell der profanen Zeit darstellt, liegt in ihr auch bereits die Zukunft vorgebildet und verborgen. Das kurzzeitige Verharren auf der Schwelle bietet gleichsam einen Ausblick auf alles, was der nächste Umlauf mit sich bringen mag. So sind die Rauhnächte traditionell die Zeit der Visionen, Orakel und Wahrsagerei: Ob in der bäuerlichen Stube das Wetter für die kommenden Monate ausgedeutet oder im bürgerlichen Haushalt ein persönliches Omen beim Bleigießen gesucht wird – überall, wo der Mensch nach solchen Zeichen Ausschau hält, zeigt sich sein tiefes Vertrauen in einen inneren Zusammenhang zwischen den Erscheinungen, die sich ihm in solchen herausgehobenen Momenten als Boten eines geheimen Sinns ankündigen.
„Speertoden holder als schweigender Wacht, / Aller Gestürzten Geleit, / Blutigen Fittichs zu Flügen entfacht, / Jenseits-entrauscht in die Zeit: / Dies sind die Hüter der Schwelle, / Flügelregendes Heer, / Zwischen Himmel und Welle / Walter der Wiederkehr, / Spielend im Kreis von Es sei und Vollbracht / Ewig und Nimmermehr.“
Rolf Schilling, Die Hüter der Schwelle
Rauhnacht – das ist die Zeit der Wilden Jagd
In diesen Nächten zieht nach einstmals weit verbreiteter Vorstellung ein Heer aus geisterhaften Kriegern und Jägern über den Himmel, angeführt von verschiedenen grimmen Sagengestalten, hinter deren wechselnden Masken sich zumeist der launenhafte Gott Wotan verbirgt. In diesen Sagen begegnet uns, verborgen unter der Oberfläche aus Folklore, Neujahrsbrauch und Schauergeschichte, das Element der Initiation. Der Vergleich verschiedener indoeuropäischer Überlieferungen zeigt, dass das Fest der Wintersonnenwende und die Neujahrszeit einst vielerorts mit den Einweihungsriten der jungen Männer verknüpft waren, die nach mehreren Jahren des „wölfischen“ Lebens außerhalb der Gesellschaft ihren Platz als vollwertige Mitglieder derselben einnahmen.[1] Initiation ist dabei gleichbedeutend mit Tod und Neugeburt. Während der Zeit des Übergangs zwischen altem und neuem Leben weilt der Initiand im Bund mit seinen verstorbenen Ahnen, die im Gefolge des einäugigen Zauber- und Totengottes dahinziehen.
Womöglich sind hier auch die Wurzeln der Krampus- und Perchtenläufe zu suchen, die sich immer häufiger finden, umso näher man den bayerisch-österreichischen Alpentälern kommt. Der Männerbund, der hier lärmend und mit schauerlichen Fratzen und Pelzen verkleidet durch die Straßen zieht, bringt zwar Schrecken und Schalk, doch spendet er auch den Segen fürs neue Jahr (zumindest denen, die ihm das angemessene Opfer bringen). Im Namen dieser Umzüge klingt noch immer der Name der alten süddeutschen Göttin Perchta nach, welche hierzulande mit zahlreichen Volksbräuchen während der Rauhnächte assoziiert war und teilweise auch als Anführerin der Wilden Jagd genannt wird. Ob ihr Name sich aus dem Wortstamm von „ver-bergen“ ableitet und damit auf ein chthonisches Wesen hindeutet, oder ob sich darin vielmehr der althochdeutsche Ausdruck „peraht“ („glänzend“) verbirgt, bleibt ungeklärt. Möglicherweise liegt auch gerade in dieser Ambivalenz das eigentliche Wesen der Göttin, die als Führerin der Perchtenhorden gelegentlich mit zwei Gesichtern dargestellt wird, eines finster und verzerrt („schiach“, wie der Bayer sagt), das andere licht und schön. Sind nicht auch die Rauhnächte die dunkelste Zeit des Jahres, in deren Tiefe sich zugleich die Geburtsstunde des neuen Lichts ereignet?
„Dunkel is, ’s pfeift ums Eck da koide Wind / Pack di zsamm, nei in d‘ Hüttn mitsamt deim Kind / Durch d‘ Gassn rumpen finstre Fratzn / Und wia de raffan und wia de schrein / De Hår so wuid / Und ’s head ned auf zum Schneim…“
Lunar Aurora, Håbergoaß
Rauhnacht – das ist die Zeit des Weihrauchs
In diesen Wochen sind Haus und Hof erfüllt vom Aroma des Räucherwerks, das verbrannt wird, um das Zuhause von all den bösen Geistern zu befreien, die sich während des vergangenen Jahres in dunklen Ecken und vergessenen Nischen eingenistet haben. Die Zeit des Übergangs, des Innehaltens und der Neugeburt ist vor allem eine Zeit der Reinigung. Auf der Schwelle zwischen Altem und Neuem soll aller unnötiger Ballast, den die Wogen der Zeit ans Ufer unseres Lebens gespült haben, zurückgelassen und der läuternden Flamme übergeben werden. Wer für eine gründliche Reinigung sorgen will, braucht Geduld und einen aufmerksamen Blick, um die geweihten Schwaden in all die verborgenen Ritzen und Winkel eindringen zu lassen, die im Lauf des Jahres übersehen und vernachlässigt worden sind. Der Blick richtet sich dabei vor allem nach innen: Während das Alltagsgeschehen für einige Tage zum Erliegen kommt und das Leben sich aufs eigene Heim fokussiert, bietet sich uns die Gelegenheit, auch im eigenen Seelenhaushalt für Ordnung zu sorgen, lästige Dämonen und Druckgeister auszuräuchern, die Geschehnisse des vergangenen Jahres zu reflektieren und Kraft für den neuen Umlauf zu schöpfen.
Für diese Zeit der persönlichen Meditation, wenn draußen die Nacht hereinbricht und das Haus in schweren Weihrauchduft gehüllt ist, ist der beste Begleiter ein gutes Buch. Ich selbst greife bei dieser Gelegenheit immer wieder zu Ernst Jüngers Kurzgeschichte Besuch auf Godenholm, welche von zwei Männern, Einar und Moltner, erzählt, die unter der Leitung des geheimnisvollen Iatromanten Schwarzenberg eine Reise in die Tiefen der eigenen Seele unternehmen. Auf ihrer psychonautischen Expedition, in der Jüngers persönliche Erfahrungen mit bewusstseinserweiternden Drogen anklingen, offenbaren sich den Beiden in überwältigender Bildersprache die Antworten auf ihre drängenden Fragen, welche den Anlass für die Reise zu Schwarzenbergs fernem Eiland im nordischen Nebelmeer dargestellt hatten. Auch von meinen eigenen, alljährlichen Besuchen auf Godenholm kehre ich immer wieder mit neuen, heilsamen Einsichten zurück, die auf wundersame Weise gerade jene Konflikte und Probleme widerspiegeln, die mich im vergangenen Jahr umgetrieben hatten. Die Einweihung in die Mysterien des eigenen Selbst, von der Jünger hier erzählt, überschreitet die Grenzen der Fiktion und lässt auch den Leser, der sich ihr bereitwillig öffnet, an ihrer kathartischen Wirkung teilhaben.
„Schwarzenberg schien nicht geneigt, zu kommentieren, was in der Nacht geschehen war. Er sagte nur: Ich hoffe, dass ich auch im nächsten Jahr wieder für Trank und Speise sorgen kann. Was das übrige angeht“ – er lächelte – „so ist es bei mir nicht anders als in einer spanischen Herberge. Die Gäste finden hier nicht mehr, als was sie im Gepäck mitbringen.“
[1] Nachzulesen bei Kris Kerschaw, Odin: Der einäugige Gott und die indogermanischen Männerbünde, Arun Verlag, 2007