Die Kunst des Liedes (I): Mozart

Gedanke und Empfindung, Sprache und Musik finden ihre engste Verknüpfung im Kunstlied, das untrennbar mit der Dichtung der deutschen Romantik und mit den Namen Schubert und Schumann verbunden ist. Die Reihe über die „Kunst des Liedes“ wird neben diesen beiden Hauptvertretern weitere Juwelen der Gattung, in denen die deutsche Romantik ihren intensivsten Ausdruck fand, vorstellen. Auch ein Seitenblick nach Frankreich wird nicht fehlen. Zunächst aber wird mit einem Beispiel aus einer Oper Mozarts an den ersten Vollender der Synthese von Musik und Sprache erinnert, von dessen Genius alle späteren Komponisten zehren.

 

Über Mozart wurde schon (zu) viel geschrieben, aber es gilt nun einmal: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Wer so viel Bewunderung, ja Hingabe zu wecken vermag wie Mozart, wer mit seiner Musik eine Quelle immer neuer Begeisterung und Inspiration ist, über den werden zu Recht die Regalmeter in den Bibliotheken gefüllt. Aber was kann dieses Schreiben anderes sein als der Versuch, ein Rätsel zu lösen, das ohnehin für jeden sichtbar – nein hörbar – gelöst ist? Gelöst für jeden, der wirklich hören kann. Busoni sagte über Mozart: Er gibt einem mit dem Rätsel die Lösung. Behält man das im Hinterkopf, ebenso wie Robert Schumanns Diktum, dass vielleicht nur der Genius den Genius ganz versteht, dann kann man diese Zeilen lesen als ein Dokument der Verehrung und des staunenden, notgedrungen unvollkommenen Versuches, zu begreifen, was so tief ergreifen kann.

Szene: Der junge Page Cherubino (eine „Hosenrolle“, also auf der Bühne von einer als Jüngling verkleideten Sopranistin verkörpert und gesungen) singt seiner unerreichbaren Angebeteten, der Gräfin Almaviva, ein selbst geschriebenes Ständchen und wird dazu von der Kammerzofe Susanna auf der Gitarre begleitet. Cherubino hat schon den Abschied vor Augen, denn er muss auf Geheiß seines Herren, des Grafen Almaviva, zum Militär.

Lange Zeit habe ich dieses berühmte „Voi che sapete“ aus der Oper „Figaros Hochzeit“ (uraufgeführt 1786) als ein etwas glattes und oberflächliches Stück mozartischer Eleganz und Könnerschaft gehört – vielleicht auch bedingt durch einige glatte und oberflächliche Darbietungen. Erst durch die (oben verlinkte) Interpretation von Maria Ewing fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Was hier dem Zwiegespann aus dem begabten Librettisten Lorenzo da Ponte und dem Genie Mozart gelungen ist, gehört zu den großen künstlerischen Darstellungen der Gewalt der Liebe. Es ist in eine Reihe zu stellen mit den Versen Sapphos über den Eros, das „bittersüße, entmachtende Ungetier“, und mit den Sonetten der Louise Labé: „Je vis, je meurs; je me brûle et me noie; / J’ai chaud extrême en endurant froidure.“ („Ich lebe, ich sterbe; ich verbrenne und ertrinke; / ich erfahre äußerste Hitze und Kälte zugleich.“)

Nach einer kurzen instrumentalen Einleitung beginnt der Page sein Ständchen und richtet sich mit der ersten Strophe an die Damen („donne“), weil diese wissen, was für eine „Sache“ die Liebe ist. Die gezupften Streicher („pizzicato“) simulieren den Gitarrenklang. Die Melodie enthält wohldosierte Chromatik, die von Mozart meisterhaft zur Darstellung des schmachtenden Empfindens eingesetzt wird. Der weiche Klang von Klarinetten und Oboen im Orchester erzeugt die passende Stimmung.

Um den Damen zu beweisen, dass er tiefe Liebe empfindet, beschreibt Cherubino nun sein Gefühlsleben. Dem schickt er das folgende Bekenntnis voraus: „È per me nuovo / Capir nol so“ – „es ist neu für mich und ich kann es nicht verstehen.“ Das antike Denken sprach von der ergreifenden Gewalt des Eros oder Amors, die immer neu ist und den Betroffenen in unbegreiflicher Weise überfällt und unterjocht. Hier taucht diese Gewalt, mitten zwischen den Perücken des späten 18. Jahrhunderts, wieder auf – wenn auch klassisch geformt und dadurch „gebändigt“, aber nicht weniger bewegend.

Die extremen Schwingungen und Schwankungen des Gefühls, die der Verliebte kennt, sein Hin und Her zwischen Leben und Tod, Hitze und Kälte, werden auch von Cherubino beschrieben: Ein Empfinden („affetto“), „ch’ora è diletto / Ch’ora è martir“ („das mal Entzücken ist, mal Martyrium“). Der aufmerksame Hörer kann auch ganz ohne musiktheoretische Kenntnisse nachvollziehen, wie Mozart hier dem Textgehalt in der Musik nachspürt: Dem melismatisch vertonten „diletto“ in Dur folgt das „martir“ in schmerzlichem Moll. Das unvermittelte Umschlagen von eisigem Erstarren zum Entflammen der Seele und umgekehrt ist Thema der nächsten Strophe, die mit den Worten beginnt: „Gelo e poi sento / L’alma avvampar“.

Nun werden Mollklänge dominant: Cherubino klagt, dass er ein Gut sucht, das außerhalb von ihm liegt und, wie man hinzudenken darf, das unerreichbar weit fort ist. Cherubino weiß nicht einmal genau, wer das Gut besitzt und was es ist. Die folgende Strophe birgt musikalisch große Spannung und Erwartung, sie wird begleitet von chromatisch ansteigenden und lang gehaltenen Tönen von Flöte und Oboe. Man kann es nicht anders als ergreifend nennen, wie hier das Sehnen, Seufzen, Stöhnen und Zittern Cherubinos vergegenwärtigt wird. All dies geschieht ohne sein Wollen und Zutun, als Wirken einer irrationalen Macht. Cherubino gesteht, dass er weder am Tag noch in der Nacht Frieden findet. Doch, so die überraschende Wendung, bevor die Wiederkehr der ersten Strophe vorbereitet wird: Es gefällt dem Pagen, so zu bluten und an der Liebe zu leiden.

In der Wiederholung der ersten Strophe am Ende von Cherubinos Arietta hat Mozart eine letzte Überraschung parat: Bei dem Wort „cor“ („Herz“) bringt ein Trugschluss in g-Moll noch einmal den ganzen Schmerz Cherubinos zum Ausdruck.

Es ist kein Schubert, kein Schumann ohne Mozart denkbar. Mozart weist voraus auf die wühlenden Empfindungen der Romantik, aber er bleibt dem klassischen Ideal von Form, Maß und Eleganz auch dort verpflichtet, wo er extreme Empfindungen evoziert.

Der Text der Arietta:

Voi che sapete
Che cosa è amor,
Donne vedete
S’io l’ho nel cor.

Quello ch’io provo
Vi ridirò,
È per me nuovo
Capir nol so.

Sento un affetto
Pien di desir,
Ch’ora è diletto
Ch’ora è martir.

Gelo e poi sento
L’alma avvampar,
E in un momento
Torno a gelar.

Ricerco un bene
Fuori di me,
Non so chi’l tiene
Non so cos’è.

Sospiro e gemo
Senza voler,
Palpito e tremo
Senza saper.

Non trovo pace
Notte ne dì,
Ma pur mi piace
Languir così.

Voi che sapete
Che cosa è amor,
Donne vedete
S’io l’ho nel cor.

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