Europas schönster Abgesang — „The Lone Furrow“ von ROME

Sphärische Klänge, geschwängert vom Unheimlichen. Ein unheilvolles, dunkles Grollen, das den Raum erfüllt. Wie eine noch junge Welle brandet uns das Ungewisse ans Ohr, doch es ist noch nicht Nacht. Hoffnungsvolles Vogelgezwitscher erhellt den finsteren Klangteppich, und eine entschiedene Stimme wie aus einem fernen Nirwana klagt in unmissverständlichen Sentenzen an: Auf der Anklagebank sitzt er, der moderne Mensch, der die Geschichte gefälscht, unseren Namen beschmutzt und unsere Völker vergiftet hat. Der Tag des Jüngsten Gerichts ist gekommen, und das Urteil wird vernichtend sein. Die späten Kinder der Tradition holen sich ihre Welt endlich zurück, und ROME ist angetreten, mit The Lone Furrow dem Requiem der Moderne den passenden Soundtrack zu verpassen.

Mit The Lone Furrow legt der in Neofolk-Gefilden altbekannte und geschätzte Jérôme Reuter sein neues Machwerk vor, das sich musikalisch nahtlos in seine Diskografie einreiht, aus mehreren Gründen allerdings herausragt – aber der Reihe nach: Für sein neues Projekt hat der Singer-Songwriter aus Luxemburg sich neben langjährigen Begleitern Unterstützung aus ganz Europa ins heimische Studio geholt. Neben Adam Nergal Darski, Frontmann der polnischen Blackmetalband Behemoth, ist der Ire Alan Averill von Primordial mit von der Partie, ebenso Laure le Prunenec aus Frankreich und J.J. von Harakiri for the Sky aus Österreich.

Symbolikoverload, ja bitte – Artwork im Booklet

Die inhaltliche Marschrichtung wird durch das konfrontative, kämpferische Intro und die beiden folgenden Songs direkt zu Anfang offenbart, und das abrupte Aufsitzen ist der Beginn eines Parforceritts durch die traditionsverhaftete europäische Geisteslandschaft. Das Heute, zunächst wüstengleich, leer und bedrohlich, wird auf geistige Oasen hin abgesucht. Die einsamen, vertrockneten Furchen lechzen nach Dünger und Wasser in Zeiten längster Dürreperioden. Die aufmunternden Rhythmen von Tyriat sig Tyrias und die melancholisch-verträumte Zuversicht in Ächtung, Baby! versichern dem Hörer: Die Hoffnung stirbt zuletzt, weil wir nicht Anbeter der Asche, sondern Bewahrer der Flamme sind. Das Beschwören konservativer Metaphern und Ideen ist ein zentrales Motiv des Albums, das im klanglichen und ideellen Zwischenraum von Tat und Traum, dessen Beschwörung an die Worte Ernst Jüngers erinnert, oszilliert. Reuter, der als Inspiration für sein Werk einer „Armee von Autoren und Denkern der europäischen Tradition“ seinen Dank ausspricht, wagt sich mit diesem Album erneut heraus aus dem ewiggleichen, moralisierenden Egalitarismus-Unisono der kulturell desinfizierten und glattgelutschten Kulturindustrie.

Watch the things you gave life to broken and cursed
And though Europe may die this death well-rehearsed
You will plow the lone furrow just the same
And build it back up on Albion’s plain

aus „On Albion’s Plain“

ROME geht mit The Lone Furrow den seit einigen Jahren eingeschlagenen Weg in Richtung eines antimodernistischen, traditionsgebundenen und ästhetizistischen Konservatismus konsequent weiter. Hier werden Ecken und Kanten, die auf vorangegangenen Platten bereits latent angelegt waren, endgültig ans Tageslicht geholt und voller Stolz auf Hochglanz poliert. A propos Hochglanz: Artwork und Design präsentieren sich ästhetisch wie gewohnt auf höchstem Niveau und geben dem Inhalt die standesgemäße Form, und der gekrönte, brüllende Löwe, umschlossen vom Eichenlaubkranz, thront erhaben und der Zeit enthoben auf dem Booklet des Albums. Dem Anspruch, ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, wird so definitiv Rechnung getragen.

ROME – Ächtung, Baby!

Der Zeit enthoben zu sein scheint auch das Ideenkonglomerat, das das Album zusammenhält und zu einer willensstarken und selbstsicheren Bekundung europäischer Identitätsbewahrung macht: Eklektizistisch sucht Reuter Anschluss an die große Tradition und spickt jeden Song mit mehr oder minder versteckten Anspielungen oder Zitaten, die dem geschichts- und kulturbewanderten Hörer sicher vertraut sein dürften. Neben dem konservativen Urgestein Ernst Jünger sind Ezra Pound, Friedrich Nietzsche, Rudyard Kipling sowie Roger Scruton und Charles Baudelaire als wichtige Referenzen zu nennen, und auch Bertolt Brecht findet seinen Platz in Reuters persönlichem Pantheon. Der von Natur aus sprachbegabte Luxemburger will seine Hörer fordern, weshalb man die ausufernden Bezüge nicht nur als intellektuelle Nabelschau, sondern auch als Aufforderung interpretieren kann, sich tiefgehend mit seinem eigenen Kulturkreis zu befassen und sich auf die Suche nach den vielen verborgenen Schätzen unserer Tradition zu begeben. Dem Hörer wird eine reichhaltige Fundgrube dargeboten, bis an den Rand gefüllt mit philosophischen Versatzstücken, historischen Referenzen, mystischen Geschichten und uralter Symbolik.

Reuter und Nergal servieren dem zunächst hoffnungsvoll gestimmten Hörer im Anschluss an die Opener ihren „Angry Cup“, dessen berauschender Inhalt hypnotische Kraft entfaltet und uns mit wummernden Drums das dionysische Saufgelage schmackhaft macht. Die besungene Aggression weicht im darauffolgenden Song der trotzigen wie entschiedenen Losung: „Not in my name, don’t take me for a fool“ – man will sich weder vom herrschenden Zeitgeist bevormunden noch für dumm verkaufen lassen.

„West is west and east is east, never the twain shall meet.“

Rome, The Twain

Die dialektische Gegenüberstellung von westlicher und östlicher Hemisphäre spielt auf das Gedicht The Ballad of East and West von Rudyard Kipling an, der sich bezüglich der Macht der kulturellen Prägekraft keinen Illusionen hingegeben hat. Die Lyrik kippt jedoch zu keinem Punkt in Bereiche des Politkitsches und bleibt durchgehend dem ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens verhaftet, weshalb wir dazu eingeladen werden, dem unentrinnbaren Zeitalter des Kali Yuga zu huldigen und dem alltäglich über alle Kanäle verbreiteten Unfug der „fools and firebrands“ die kalte Schulter zu zeigen. Mit prägnanter dunkler Stimme, beschwörend-bedrückenden sprachlichen Bildern und sich aufdrängendem Getrommel haben wir den Soundtrack zum unaufhaltsamen und ewig wiederkehrenden Untergang im Ohr. Von wissender Heiterkeit beflügelt hören wir dem Sänger bei zarathustrahafter Predigt und sanftem, pianobegleitetem mystischen Geschichtenerzählen zu, während im Hintergrund Thor sein gewittgriges Donnergrollen erbeben lässt – Blitze, Äther, Flüsse, Meere, Berge und Götter. Zum Abschluss wird Novalis als Seher und Deuter angerufen, der das Zauberwort beschwört, mit dem das „ganze verkehrte Leben“ fortweht. Hier vermischen sich Sehnsucht nach einer anderen Welt mit unumwundener Verklärungslust und dem Ideal der Schönheit – das Rezept, das seit längerer Zeit ein Garant für Reuters künstlerischen Erfolg darstellt. Reuter ist auf The Lone Furrow als Poet erneut auf einem Streifzug durch die unwirtlich gewordene Landschaft des Geistes, auf der Suche nach dem verlorengegangenen mystischen Sehnsuchtsort Arkadien, Hort des sagenumwobenen Goldenen Zeitalters.

Reuter, der Deuter

Reuters vielfältiger Stimmeneinsatz gewinnt auf „The Lone Furrow“ eine neue Tiefendimension, die ein Panorama zwischen entspannter Hörbuchstimme, religiös-ergebener Anbetung bis zu entschiedener Verteidigungshaltung aufschlägt. So scheint es nicht verwunderlich, dass seine Stimme neben dem thematischen Auf und Ab sowie der musikalischen Klangbreite erheblich zur Stimmungserzeugung beiträgt. Zwei kleine Wermutstropfen bleiben jedoch im gierig ausgeleerten Angry Cup zurück: Auch wenn die Interludes sowie Einführung und Abschluss darüber hinwegtäuschen mögen, liefert ROME leider nur acht „komplette“ Lieder, die im Ganzen betrachtet inhaltlich und lyrisch zwar zu seinen besten gehören, die musikalische Qualität der sehr guten Vorgänger (vor allem The Hyperion Machine und Le Ceneri di Heliodoro) aber nicht durchweg erreichen. Wer die Messlatte selbst so hoch legt, kommt manchmal nicht umhin, sie zu reißen. Dennoch: Das ist Meckern auf hohem Niveau. Hinsichtlich der künstlerischen Symbiose von Lyrik, Bildung und Musik (im Jahresrhythmus) kann heute kaum jemand Reuter das Wasser reichen.

„The birds have the eagle, the beasts have the lion and I shall be kneeling before that king of mine.“

aus „Ächtung, Baby!“

Die hauptsächlich englischsprachigen Texte werden durch die Gastbeiträge in jeweiliger Landessprache ergänzt, sodass die künstlerische Zusammenarbeit einem europäischen Einigungsprozess gleichkommt, der den Eklektizismus der Ideen auf sprachlicher Ebene unterfüttert. Auf „Palmyra“ glänzt Reuter mit dunklem französischem Chanson und den heiter-erbauenden Abschiedsgruß gibt es als Dank für seine mehrheitlich deutschsprachige Fanbase dann auch auf unserer Sprache, was im Schaffen des Luxemburgers absoluten Seltenheitswert hat. Verabschiedet werden wir mit für die sonst eher von Distanz geprägte Kunst ROME’s auf ungewöhnliche wie vertraut-brüderliche Art: „Warte doch auf mich – Ich werd‘ alle für dich richten, alles nur für dich.“ Man darf gespannt sein, was ROME der Hörerschaft in Zukunft noch präsentieren wird, denn wer so selbstbewusst von der Bühne tritt, steht wahrscheinlich gerade erst am Anfang des Ausschöpfungsprozesses und hat einiges in der Hinterhand.

Das Albumcover

„Pretend to know me and I’ll pretend to care.“

trotzig wie eh und je – aus „Kali Yuga über alles“

The Lone Furrow von ROME entlässt uns nach knapp 45 Minuten Spielzeit an altbekannter Stelle. Der Kreis schließt sich, der Ouroboros windet sich vor unserem geistigen Auge. Das bedrohliche Summen, das dunkle Dröhnen, und der Gesang der Vögel evozieren erneut die surreale Stimmung des Beginns. Der Ritt endet auf einem Gipfel, der allerdings weder dem Olymp noch Walhalla gleicht, sondern eher Caspar David Friedrichs Felsvorsprung seines berühmten Wanderers. Haben wir uns überhaupt bewegt, oder kreisten wir von Anbeginn nur um den Gipfel in uns selbst? Mit den Worten Roger Scrutons steigen wir in uns und an uns selbst auf und überblicken mit dem Stolz des solitären apollinischen Individuums abendländischer Prägung die Irrungen und Wirrungen des Zeitgeists:

WE ARE GOING THROUGH A PERIOD OF ECLIPSE
WE ARE ENTERING A DARK AGE
AND THIS HAS HAPPENED BEFORE
MANY TIMES
BUT THE WONDERFUL THING IS
THAT IT IS STILL POSSIBLE TO GAIN A VISION
TO STAND ON A LITTLE PEAK
A PEAK OF ONE’S OWN
AND LOOK ACROSS AT ALL THIS
THIS SEA OF IGNORANCE
AND CONFUSION AND HYSTERIA AND…
SMILE AT IT

„The Lone Furrow“ von ROME kann man hier erwerben.

Weitere Beiträge