Die Einheit des Abendlandes

Ein kulturphilosophischer Entwurf

Vier Thesen

I. Es gibt eine Einheit der drei großen geistigen Strömungen des Abendlandes (griechische Philosophie, christlicher Monotheismus und religionskritische Aufklärung). Zudem gibt es eine Einheit der abendländischen Geschichte, die es rechtfertigt, eine „große Erzählung“ von der Entwicklung des Abendlandes zu erzählen.

II. Die Einheit der abendländischen Geschichte ist nur im Christentum zu finden. Nur das Christentum umspannt die Epochen der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit, denn es enthält in sich aufgehoben das antike Erbe und weist mit seiner Scheidung zwischen Gott und Welt voraus auf die neuzeitliche Säkularisierung. Deshalb ist die Rede vom „christlichen Abendland“ gerechtfertigt.

III. Gegen „Enthellenisierer“ des Christentums und gegen antichristliche Aufklärer ist von einem wesensmäßigen Aufeinanderbezogensein von Glaube und Vernunft, griechischer Philosophie und christlichem Glauben auszugehen.

IV. Gegen Reaktionäre, die mittelalterliche Zustände wiederherstellen wollen, und gegen antichristliche Aufklärer, die eine vollständige Abwendung vom christlichen Erbe herbeiführen wollen, ist von einer Kontinuität zwischen Mittelalter und Neuzeit insofern auszugehen, als die neuzeitliche Säkularisierung legitime Folgerungen aus dem christlichen Glauben zieht.

Das Problem

Das Abendland kann als Einheit dreier geistiger Strömungen verstanden werden: Griechische Philosophie, christlicher Monotheismus und religionskritische Aufklärung wirken in der Geschichte und im geistigen Leben des Abendlandes zusammen. Die Geschichte des Abendlandes lässt sich in drei Epochen gliedern, in denen jeweils eine dieser Strömungen dominiert: die Antike ist geprägt durch die Philosophie und durch polytheistische Kulte; im Mittelalter dominiert der christliche Monotheismus das Leben des Abendlandes; und in der Neuzeit gewinnen die religionskritische Aufklärung und besonders die von der Religion emanzipierte Naturwissenschaft und Technik zunehmend an Einfluss.

Gibt es überhaupt so etwas wie eine Einheit dieser drei Strömungen? Anders gefragt: Wo liegt die Kontinuität zwischen Antike, Mittelalter und Neuzeit? Nur eine solche Einheit, eine solche Kontinuität würde die Rede vom „Abendland“ rechtfertigen.

In der Geschichte des Abendlandes existieren mindestens zwei große Brüche, durch die die Kontinuität der Überlieferung gefährdet ist. Der erste Bruch liegt zwischen der „heidnischen“ Antike und dem christlichen Mittelalter. Der zweite Bruch liegt zwischen dem christlichen Mittelalter und der in weiten Teilen antichristlichen und säkularen Neuzeit. Diese beiden Brüche sollen im Folgenden näher betrachtet werden, besonders im Blick auf eine in ihnen möglicherweise sichtbar werdende Kontinuität, die die Rede vom „Abendland“ im dargestellten Sinne rechtfertigen würde.

Bruch zwischen Antike und Mittelalter?

Als das weströmische Reich zerfiel, ging damit auch die wichtigste einheits- und ordnungsstiftende Macht für die Gebiete des heutigen Abendlandes zugrunde. Dies markiert zugleich einen Kulturbruch, besonders deutlich im Zusammenfallen zweier Ereignisse aus dem Jahr 529: In diesem Jahr, in dem Kaiser Justinian I. den Lehrbetrieb der platonischen Akademie untersagte, gründete Benedikt von Nursia die Abtei Montecassino. Verdichtet zeigt sich in diesen beiden Ereignissen der Übergang zwischen zwei unterschiedlichen kulturprägenden Kräften: An die Stelle der Philosophie (und der polytheistischen Kulte) trat der Monotheismus des Christentums.

Doch diese Formulierung ist ungenau, bei näherem Hinsehen sogar falsch. Denn das Christentum erwies sich als die kulturprägende Kraft des Abendlandes nur in seiner Verbindung mit der griechischen Philosophie. Silvio Vietta (2007) erkennt in der abendländischen DNA das Zusammenwirken zweier „Kodierungen“: Die „griechische Logos-Kodierung“, also philosophische Gelehrsamkeit, verband sich mit der „christlichen Pistis-Kodierung“, dem Glauben an das schöpferische Handeln des einen Gottes, der sich in Jesus Christus inkarniert hat. Auch Joseph Ratzinger hat die Einheit von christlichem Glauben und griechischer Philosophie stets betont. So schreibt er etwa in dem Buch „Glaube – Wahrheit – Toleranz“ (Ratzinger 2003, S. 68), die eigentümliche Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte bestehe darin, dass es „Aufklärung und Religion nicht getrennt, nicht gegeneinander gesetzt, sondern als ein Gefüge zusammengebunden hat, in dem immer wieder beide sich gegenseitig reinigen und vertiefen müssen.“

Was auf den ersten Blick als Kulturbruch erscheint, zeigt sich, so gesehen, als eine Kontinuität der Entwicklung. Einwände gegen diese Kontinuität werden meist von zwei Seiten erhoben: von Vertretern einer antichristlichen Aufklärung und von Vertretern einer „Enthellenisierung“ des Christentums.

a) Der antichristliche Einwand

Eine verbreitete antichristliche Geschichtsdeutung – nachzulesen etwa bei Friedrich Nietzsche – sieht im Übergang von der Antike zum Mittelalter primär Verfall und Ende einer hochstehenden Kultur sowie ihre Ersetzung durch eine Religion des Pöbels, des Ressentiments und der Intoleranz.

Diese Sichtweise hat durchaus Argumente auf ihrer Seite. Paulus sah in 1. Korinther 1,18 völlig richtig, dass das christliche „Wort vom Kreuz“, die Botschaft eines gekreuzigten Gottes, in den Augen eines gebildeten antiken Menschen als eine „Torheit“ erscheinen musste, wobei dieses Wort fast zu mild ist: geradezu anstößig, ja ekelhaft musste diese Botschaft auf viele wirken. Dazu lese man etwa die Polemik des Philosophen Kelsos. In den zahlreichen Verdammungsurteilen über das Christentum meint man darin immer wieder Nietzsche zu vernehmen. Es ist bezeichnend, dass die älteste bildliche Darstellung von Jesus, das Alexamenos-Graffito, die Idee eines gekreuzigten Gottes (und ihren Anhänger Alexamenos) verspottet, indem es den Gekreuzigten mit einem Eselskopf darstellt.

Gemäß dem antichristlichen Einwand ist der mittelalterliche Versuch einer Synthese von Philosophie und Christentum nicht Ausdruck einer echten Kontinuität zwischen den Epochen. Dieser Syntheseversuch ist vielmehr nur die Interpretation des „heidnischen“ Erbes durch eine ihm wesensfremde Geisteshaltung, die dieses Erbe nicht eigentlich fortführen, sondern nur zurechtbiegen und in Bruchstücken in die eigene Lehre einpassen konnte. Zugespitzt: Das „christliche Abendland“ ist Ergebnis einer widerrechtlichen Aneignung, eines Raubes antiker Traditionen.

b) Der Einwand der „Enthellenisierer“

Spiegelbildlich zum antichristlichen Einwand findet sich auf christlicher, besonders auf protestantischer Seite die Behauptung, dass die Vermengung mit griechischer Philosophie die ursprüngliche christliche Botschaft verfälscht habe. Ein dem Christentum wesensfremder philosophischer Wahrheitsbegriff hat beispielsweise nach dem protestantischen Theologen Emil Brunner (1963) den Charakter des biblischen Wahrheitsverständnisses („Wahrheit als Begegnung“) überlagert und verfälscht. Es sei notwendig, sich von dem griechischen Ballast zu befreien, um die ursprüngliche biblische Botschaft wieder zur Geltung zu bringen.

Dieser Einwand gegen eine Kontinuität zwischen antiker und mittelalterlicher Kultur sieht – ebenso wie der bereits dargestellte antichristliche Einwand – den mittelalterlichen Versuch einer Synthese von Philosophie und Glauben als verfehlt an, in diesem Fall aber von einem christlichen Standpunkt aus. Nicht das Christentum habe die antike Philosophie missverstanden und verfälscht, sondern umgekehrt habe philosophisches Denken die klare, unmissverständliche Artikulation der christlichen Heilsbotschaft erschwert oder gar unmöglich gemacht. Luthers Polemik gegen die „Hure Vernunft“ und seine Abkehr von den Denkgebäuden der Scholastik erscheint so als Befreiung zum Eigentlichen und Eigenen des Christentums.

Gegen beide Einwände ist an der Einheit von Vernunft und Glaube festzuhalten. Antike Philosophie und Christentum verhalten sich zueinander wie Frage und Antwort, Erwartung und Erfüllung. Die Kritik der Philosophie an den anthropomorphen Götterbildern des Polytheismus steht in genauer Entsprechung zum jüdischen Bilderverbot. Beide ebneten die Straße, öffneten den Raum für die Inkarnation des Logos (der nach dem Johannes-Prolog identisch ist mit dem einen Gott) in Jesus Christus.

Sprachmächtig hat beispielsweise Theodor Haecker in seinem Vergil-Buch auf den „adventistischen“ Charakter des antiken Heidentums hingewiesen: Die Schwermut des Dichters Vergil verweise auf einen Mangel, seine Sehnsucht weise voraus auf das Kommen Jesu. „Für den rechten Betrachter […] ist wohl zwischen beiden [dem Heiden Scipio und dem Christen Ambrosius von Mailand] der Einbruch der Offenbarung, der Erscheinung des Heils, das von den Juden kommt, die Mitwirkung der Gnade, aber auf seiten der Natur, welche von der Übernatur vorausgesetzt wird, ist eine offensichtliche Kontinuität.“ (Haecker 1931, S. 27.)

Die Synthese von Griechentum und Christentum ist bereits in der Bibel, in den Weisheitsbüchern des Alten Testamentes ebenso wie etwa im Johannesevangelium des Neuen Testamentes, angelegt. Es handelt sich nicht um eine widerrechtliche Aneignung oder Verzerrung von der einen oder von der anderen Seite, sondern um ein Aufeinanderzugehen, eine Ergänzung zwischen einer Vernunft, die nicht glaubensfeindlich und einem Glauben, der nicht widervernünftig, sondern übervernünftig ist (um die Unterscheidung des Thomas von Aquino aufzugreifen). Es gibt also eine Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter, und die abendländische Geschichte bildet jedenfalls in dieser Hinsicht eine unzerreißbare Einheit.

Für die Zeit des Mittelalters kann man mit Dietrich Bonhoeffer (1992, S. 99) feststellen, dass Jesus Christus „das Abendland zu einer geschichtlichen Einheit gemacht“ hat. Mit den Begriffen Viettas lässt sich formulieren: Der inkarnierte Logos symbolisiert die Aufhebung der „griechischen Logos-Kodierung“ in der „christlichen Pistis-Kodierung“ und steht so für die Weitergabe des antiken Erbes, das unverzichtbar für das Abendland ist. Der Leib Christi symbolisiert auch die Einheit der mittelalterlichen abendländischen Christenheit, das corpus christianum. Die christliche Religion durchdringt das alltägliche Leben und das Wirken staatlicher Macht und schafft so eine kulturelle und politische Einheit.

Bruch zwischen Mittelalter und Neuzeit?

Diese Einheit zerbrach mit den konfessionellen Spaltungen der Reformationszeit und mit der Trennung von Staat und Religion. Zugespitzt formulierte Novalis in seiner Rede „Die Christenheit oder Europa“ von 1799: „Mit der Reformation wars um die Christenheit gethan. Von nun an war keine mehr vorhanden. Katholiken und Protestanten oder Reformirte standen in sektirischer Abgeschnittenheit weiter von einander, als von Mahomedanern und Heiden.“

In gewissem Sinne ist auch der Begriff der „abendländischen Kultur“ ein Surrogat für die verlorene religiöse Einheit des Abendlandes. Bezeichnet er doch eine Einheit alles menschlichen Tuns, die im Mittelalter durch die Religion garantiert war. Dietrich Bonhoeffer (1992, S. 113) sieht zwar mit der französischen Revolution eine „neue Einheit“ des Abendlandes entstehen; diese neue Einheit sei aber „die abendländische Gottlosigkeit.

In dieser Betrachtungsweise liegt zwischen Mittelalter und Neuzeit ein Kulturbruch, der durchaus mit dem zwischen Antike und Mittelalter vergleichbar ist. Bedeutet er doch den Übergang zur Säkularisierung, an deren Ende der Atheismus steht, das langsame Abreißen der Sukzession der christlichen Überlieferung des Abendlandes. Die Kultur beansprucht ihre Autonomie, ihre Eigenständigkeit gegenüber religiöser Bevormundung, sie löst sich aus den religiösen Bindungen. Luthers Zwei-Reiche-Lehre befeuerte die Ausdifferenzierung von weltlicher Macht und Religion. Wissenschaft, Technik, Kunst, Recht und Wirtschaft beanspruchen ihre Autonomie. Damit war die Einheit des Abendlandes in mehrfacher Hinsicht zerbrochen: zum einen durch die Ausdifferenzierung der Christenheit in unterschiedliche Konfessionen und zum anderen durch die Ausdifferenzierung der Kultur in autonome Subsysteme.

Dieser Prozess der Säkularisierung lässt sich aber nicht nur als Abkehr vom christlichen Glauben sehen, sondern auch als konsequente Durchführung der Unterscheidung von Weltlichem und Religiösem, die bereits im Christentum angelegt ist. Diese These hat nach dem Zweiten Weltkrieg der protestantische Theologe Friedrich Gogarten ausgearbeitet, sie findet sich aber in nuce schon bei Bonhoeffer (1993, S. 103–105). Gogarten schreibt, dass die neuzeitliche Säkularisierung „ihren Grund im Wesen des christlichen Glaubens hat und seine legitime Folge ist“ (Gogarten 1966, S. 12).

Säkularisierung hat zwei Dimensionen: In der Vertikalen, im Blick auf die Transzendenz, ist sie eine radikale Entgötterung der Welt und eine Verortung Gottes im Jenseits. Das bedeutet in der Horizontalen, auf der Ebene der Welt und der Kultur, dass hier das Göttliche höchstens noch in Spuren und Zeichen zu finden ist. Es muss nun alles Religiöse unter Vorbehalt gestellt werden. Wer eine Realität der Welt oder der Kultur als göttlich verehrt, begeht den Fehler des Götzendienstes.

Gogarten unterscheidet nun zwischen dieser legitimen, im Christentum angelegten Form der Säkularisierung und dem verfehlten „Säkularismus“, der eine Abkehr des Menschen von Gott bedeutet. Mithilfe dieser Unterscheidung kann Gogarten die ideologischen Erscheinungen der Neuzeit kritisch sichten und unterscheiden zwischen den Formen der Säkularisierung, die das christliche Erbe weiterführen, und denjenigen Formen, die antichristlich sind.

Der Protestantismus in seiner lutherischen und in seiner reformierten Ausgestaltung zieht die letzten Konsequenzen aus der christlichen Entgötterung der Welt. Nach Paul Tillich ist das „protestantische Prinzip“ die radikale Unterscheidung von Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf. In seiner Studie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ (1904/05) stellte Max Weber die These auf, dass der moderne Kapitalismus durch Luthers Berufsidee und besonders durch deren calvinistische Interpretation als „innerweltliche Askese“ ermöglicht wurde.

Aber auch andere Mächte der modernen Welt, etwa die Naturwissenschaften, wären ohne das strenge protestantische Verdikt gegen jegliche Kreaturvergötterung nicht entfesselt worden, da sie niemals ihre Autonomie gegenüber religiöser Bevormundung gewonnen hätten. In die Neuausgabe seiner Protestantismus-Studie hat Weber deshalb den folgenden Satz eingefügt: „Jener große religionsgeschichtliche Prozeß der Entzauberung der Welt, welcher mit der altjüdischen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf, fand hier [im asketischen Protestantismus] seinen Abschluß.“ (Weber 1920, S. 94f.) Es zeigt sich also ein außerordentlich weitgespannter Bogen, der von der jüdischen Prophetie bis zum Protestantismus reicht und die griechische Philosophie mit einbezieht. Es ist diese Entwicklung, die das Abendland, die Einheit seiner Geschichte, ausmacht.

Literatur

Bonhoeffer, Dietrich: Ethik. München 1992.

Brunner, Emil: Wahrheit als Begegnung. 2. Aufl. Zürich 1963.

Gogarten, Friedrich: Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit. Die Säkularisierung als theologisches Problem. München / Hamburg 1966.

Haecker, Theodor: Vergil. Vater des Abendlands. Leipzig 1931.

Ratzinger, Joseph: Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen. Freiburg i. Br. 2003

Vietta, Silvio: Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung. Paderborn 2007.

Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. Tübingen 1920.

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