Der Furor des Strebens nach Eindeutigkeit

Über einen Essay von Thomas Bauer

Das Buch „Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“ von Thomas Bauer, ein kleines Reclam-Bändchen von rund 100 Seiten, war ein Überraschungserfolg. Es liegt bereits in der neunten Auflage vor. Kürzlich hat der Autor für das Buch den Tractatus-Essaypreis erhalten.

Der Erfolg des Buches im „Mainstream“ sowie der Begriff der „Vielfalt“ im Titel könnten Konservative misstrauisch machen. Im Buch lassen denn auch Seitenhiebe auf den „Populismus“, die Identitäre Bewegung und PEGIDA sowie sein Lob der „Multikulturalität“ (S. 9f.) kaum einen Zweifel an der politischen Position des Autors. Dennoch bin ich der Ansicht, dass auch Konservative das Buch mit Gewinn lesen und sich eventuell sogar seine modernekritische Grundthese zu eigen machen können.

Diese Grundthese lautet, dass die Moderne einen Verlust an „Ambiguitätstoleranz“ mit sich bringe. „Ambiguität“ ist eine Eigenschaft des Vagen und Mehrdeutigen, dessen also, was sich nicht auf einen eindeutigen Sinn festlegen lässt. Wer „ambiguitätstolerant“ ist, kann das Vage und Mehrdeutige gelten lassen und mit der Unsicherheit, Ungewissheit und Unentschiedenheit leben, die es mit sich bringt. Nach Bauer neigen Menschen aller Epochen und Kulturen dazu, allzuviel Ambiguität zu vermeiden.

Die Moderne ist jedoch seiner Ansicht nach durch ein besonders obsessives Streben nach der Vereindeutigung des Ambigen, durch eine besonders große „Ambiguitätsintoleranz“ also, gekennzeichnet. Diese Diagnose ergänzt Hans-Dieter Mutschlers These von einer „Kalkülvernunft“, die in der Moderne danach strebe, die Vielfalt der Welt auf möglichst einfache, distinkte und berechenbare Prinzipien zurückzuführen. Mathematische Formeln und Zahlen lassen keinen Raum für Vagheit, sie sind auf eine nicht zu überbietende Weise eindeutig.

Aufgrund ihrer „Ambiguitätsintoleranz“ strebe die Moderne nach Vereinheitlichung, also danach, Vielfalt zu reduzieren. Denn Vielfalt geht unvermeidlich mit Ambiguität einher, und damit auch mit Vagheit und Unsicherheit. Bauer führt zahlreiche Beispiele für den Verlust an Vielfalt in der Moderne an: In der Natur hat sich die Anzahl der Tier- und Pflanzenarten drastisch verringert. Die kapitalistische Konsumwelt bringt eine Scheinvielfalt an Waren hervor, die sich bei genauerer Betrachtung jedoch nur sehr wenig unterscheiden. Das gilt auch für die Erzeugnisse der „Kulturindustrie“, etwa für Fernsehsendungen und Kinofilme.

Wie Bauer zeigt, führt das Streben nach Eindeutigkeit in der Religion zu zwei konträren Reaktionen: einerseits zu Fanatismus, andererseits zu Gleichgültigkeit. Der Fanatismus eliminiert das Vage und Mehrdeutige der Religion, etwa der religiösen Schriften, zugunsten der Eindeutigkeit.

Als Beispiele thematisiert Bauer die Stadt Genf zur Zeit der Reformation unter dem Einfluss Johannes Calvins (S. 25–30) sowie den heutigen Islamismus. Der moralische Rigorismus und das Reinheitsstreben der Fanatiker führt in beiden Fällen zu religiös motivierter Gewalt, zur gnadenlosen Ausmerzung all dessen, was die erwünschte Eindeutigkeit gefährdet oder gefährden könnte. In der Gleichgültigkeit hingegen wird das Ambige des religiösen Glaubens vermieden, indem man ihn als bedeutungslos verwirft. Zwischen Fanatismus und Gleichgültigkeit wird der religiöse Glaube zerrieben, der immer auch eine Offenheit für das Unbekannte und für das Geheimnis in sich schließt.

Ähnliche Reaktionen wie in der Religion lassen sich nach Bauer in der Kunst der Moderne beobachten. Einerseits werde die Kunst immer inhaltsloser und dadurch auch bedeutungslos. Andererseits strebe sie durch Politisierung und Aktionismus nach Eindeutigkeit. In diesem Zusammenhang kritisiert Bauer das berühmt-berüchtigte „Zentrum für politische Schönheit“, das seine politischen Aktionen völlig zu Unrecht als Kunst ausgebe (S. 47f.). Lesenswert sind auch Bauers Reflexionen über den modernen „Authentizitätswahn“ in der Kunst und im Alltagsleben.

Das moderne Streben nach Eindeutigkeit gipfelt nach Bauer in der transhumanistischen Utopie eines „Maschinenmenschen“. Das wäre ein Mensch, der sich das Erleben von Ambiguität komplett ausgetrieben hat, sei es, indem er die ihn umgebende Welt davon „befreit“, sei es, indem er selbst sich in seinen Denk- und Wahrnehmungsformen vollständig auf das Eindeutige festgelegt hat. Wenn Bauer davor warnt und eine Einübung von „Ambiguitätstoleranz“ in Kunst und Religion fordert, kann man als Konservativer nur aus ganzem Herzen zustimmen.

Fazit: Der Essay ist aufgrund seiner zahlreichen Aspekte und Anregungen sehr lesenswert, auch wenn vieles Widerspruch hervorrufen oder nach einer tiefgehenderen Auseinandersetzung verlangen mag. Lobend ist auch zu erwähnen, dass der Essay in einer klaren, gut lesbaren Sprache geschrieben ist.

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