Der Fragebogen: Jürgen W. Falter

Der Vorhang zu und alle Fragen offen? Das soll an dieser Stelle fortan nicht mehr ausnahmslos gelten: Vorhang auf für unseren anbruch-Fragebogen, der Kultur und Politik gleichermaßen streift, weder Tagesaktuelles noch das Ewig-Gültige ausspart. Den Anfang macht der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen W. Falter.

Leben Sie eher digital oder analog?

Ich lebe in einer Zwischenwelt, denn einerseits erledige ich nicht nur meinen gesamten privaten und beruflichen Emailverkehr, aber auch meine WhatsApp-Nachrichten usw. mithilfe eines digitalen Diktiersystems (übrigens inklusive der Beantwortung dieses Fragebogens), sondern verfasse auch alle wissenschaftlichen Arbeiten einschließlich meines letzten 600-Seiten-Buches über die Mitglieder der NSDAP auf dem Wege des digitalen Diktierens. Andererseits verläuft natürlich mein normales Leben eher analog als digital.

Was war Ihr letzter Konzertbesuch?

Ich gehe häufiger in die Oper als ins Konzert, und das war kurz vor Ausbruch der Corona-Krise Tristan und Isolde in Frankfurt.

Berlin oder München?

Eigentlich beides, aber da meine beiden Kinder und meine beiden Enkel in München leben und das südliche Flair von München, aber auch seine wohlgeordnete Bürgerlichkeit mich stark ansprechen, am Ende dann doch eher München (wenn ich es mir nur leisten könnte).

Was haben Sie von Ihren Kindern gelernt?

Gelernt habe ich durch sie (also nicht von ihnen), wie sehr Anlage und Umwelt im Zusammenspiel den Menschen prägen. Gelernt von Ihnen habe ich, dass Liebe und gegenseitige Achtung einen nicht automatisch kritiklos machen.

Sind Vegetarier die besseren Menschen?

So ein Quatsch. Und Veganer sind die besten Menschen? Das schlimme ist, dass sich viele Vegetarier und noch viel mehr Veganer als die besseren Menschen dünken und die meisten von ihnen auch noch von einem geradezu missionarischen, zumeist mit Intoleranz gegenüber den Carnivoren verbundenen Sendungsbewusstsein erfüllt sind.

Woran denken Sie, wenn Sie an Corona denken?

Zu allererst an die Gefahr von Ansteckung und qualvollem Tod, dann aber auch an die Verödung persönlicher sozialer Kontakte und die Einschränkung meiner Reisefreiheit.

Brecht oder Rilke – und warum?

Heinrich Heine. Denn er hat von beiden etwas: ein großer Lyriker, ein beißender Kritiker, ein Spötter, ein Liberaler (was man zumindest von Brecht nicht behaupten kann).

Wo würden Sie niemals Urlaub machen?

In unfreien Ländern, in denen der Rechtsstaat nichts wert ist, in denen die Menschenrechte nicht geachtet werden und der Einzelne nichts zählt.

Wen finden Sie lustig?

Meine beiden Enkel (eineinhalb und dreieinhalb Jahre alt), Nuhr im Ersten (im Gegensatz zu Heute-Show im Zweiten, die politischen Zynismus sät und politische Entfremdung erntet).

Ab welchem Alter fängt das Leben erst richtig an?

Bei mir war es mit 30 oder genauer 29, als ich meine erste Lebenszeitprofessur erhielt und meine nachmalige Frau kennen lernte und ich dachte, jetzt könne das Leben stehen bleiben.

Was löst der Name Heidegger bei Ihnen aus?

Bewunderung darüber, wie man unzweifelhaft Tiefgründiges so unverständlich formulieren kann.

Wein oder Bier?

Wein, fast immer, es sei denn in einem bayerischen Biergarten.

Mit welchem Politiker würden Sie am ehesten im Fahrstuhl stecken bleiben wollen?

Mit Wolfgang Schäuble, er ist mit Abstand der intelligenteste und interessanteste Politiker, den ich jemals selbst näher kennenlernen durfte.

Ihr musikalischer Geheimtipp?

Johann Nepomuk Hummel und E. T. A. Hoffmann.

5-Gänge-Menü beim Starkoch oder Hausmachereintopf mit Zutaten der Saison aus dem eigenen Garten?

Natürlich das Menü beim Starkoch, vor allem, wenn er die klassische französische Küche praktiziert.

In welcher historischen Epoche würden Sie am liebsten wiedergeboren werden wollen und warum?

Im 19. Jahrhundert, dann aber bitte als Sohn des aufgeklärten Adels oder des wohlhabenden Bürgertums, vielleicht als Nachbar der beiden Humboldts.

Elvis oder Sinatra?

Weder noch. Meine musikalischen Präferenzen beschränken sich auf Klassik und Jazz. Sinatra ist mir zu schmalzig, Elvis zu laut. Wenn es denn unbedingt sein muss, dann schon eher die Beatles.

Unterwegs im Museum: Lieber eine gut gemalte Mülltonne oder ein schlecht gemaltes Märchenschloss?

Weder noch. Meine Lieblingsmaler sind George de La Tour, Claude Monet und die beiden Dufys.

Welcher Autor langweilt Sie?

Da gibt es so viele, dass ich mehrere Zeilen damit füllen könnte. Auf jeden Fall der spätere Grass, der irgendwann sein pralles Erzähltalent verloren hatte, aber auch Thomas Manns ‚Joseph und seine Brüder‘ und ‚Die Wohlgesinnten‘ von Jonathan Little.

Man verbannt Sie aus Europa. Auf welchem anderen Kontinent oder in welchem Land suchen Sie ein Exil?

Kanada, vor Trump auch die Vereinigten Staaten.

Was sammeln Sie und warum?

Das Sammeln habe ich schon lange aufgegeben. Wenn, sammle ich Eindrücke und Erfahrungen, aber weder Briefmarken noch Münzen und auch keine Bierdeckel.

Mit welchem Zeitgenossen würden Sie gerne für einen Tag lang Geist oder Körper tauschen?

Den Körper mit Roger Federer, den Geist mit dem Bonner Mathematiker Scholze.

Was spricht für die Religion?

Das tiefe und sowohl zeitlich als auch geographisch allgegenwärtige Bedürfnis des Menschen nach letzten Erklärungen, nach Zuflucht in der Not und Aussicht auf ein Weiterleben nach dem Tode.

Spiegel oder NZZ?

Zur Unterhaltung den Spiegel, zur Information, Analyse und Kommentierung die NZZ.

Ihre Bibliothek brennt und Sie können genau ein Buch retten, welches wäre das?

Meinen Kalender aus Studententagen mit eigenen Aphorismen, Gedanken und kleinen Gedichten.

Was sollte die Menschheit ernster nehmen als jetzt, was weniger ernst?

Ernster: Den Klimawandel; weniger ernst: die total übertriebene und von der Deutschen Umwelthilfe bedenkenlos instrumentalisierte Gefahr durch Stickoxide.

Zu welcher Jahres- oder Tageszeit kommen Ihnen die besten Gedanken?

Meine Gedanken sind ziemlich Jahreszeiten-unabhängig, ich glaube auch, was ihre Qualität angeht. Am kreativsten bin ich morgens, wenn ich mich um 8:00 oder 9:00 Uhr an den Schreibtisch setze.

Picasso oder Rembrandt?

Picasso und Rembrandt, da gibt es kein oder. Leichter wäre es gewesen, wenn Sie gefragt hätten: Rembrandt oder Vermeer oder Grünewald.

Sie haben Visionen. Wohin damit, zum Arzt oder in die Politik?

Ein Helmut Schmidt-Zitat, das er abgewandelt von Max Weber übernommen hatte. Mit Visionären in der Politik halte ich es am ehesten mit Hölderlin, von dem der sehr richtige Satz (sinngemäß) stammt, dass alle Versuche, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, am Ende die Hölle auf Erden gebracht haben.

Wer müsste unbedingt bekannter sein?

Der Darmstädter Komponist Christoph Graupner, der zu Lebzeiten bekannter war als sein Zeitgenosse Johann Sebastian Bach.

Wovor haben Sie Ehrfurcht?

Vor großer Kunstfertigkeit, musikalischem oder künstlerischem Talent, hoher Intelligenz und grandiosen Landschaften wie dem Grand Canyon.

Welcher Mensch hat Sie persönlich am meisten beeindruckt?

Mein ehemaliger kurzzeitiger Deutschlehrer Kurt Flasch, der später einer der bekanntesten und bedeutendsten Philosophiehistoriker für das späte Mittelalter und die frühe Neuzeit wurde. Er ist gerade 90 geworden.

Wie fühlen Sie sich nach Beantwortung dieses Fragebogens?

Besser als zuvor, da es meine erste Amtshandlung am Beginn der neuen Woche und des Arbeitstages war und es mir Spaß gemacht hat, ihn möglichst wahrheitsgemäß, und d. h. auch ohne Effekthascherei, zu beantworten.

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