Den Blick wachhalten

Die Geschichte des Films geht weit zurück, an ihr Ende gekommen ist sie allerdings noch lange nicht – und das trotz der anhaltenden Entritualisierung des einst so kostbaren Kinosaals und der damit einhergehenden permanenten Verfügbarkeit des Films. Doch die Zeiten für Pessimisten stehen schlecht, meint Viktor Landenberger, der einen Grundlagentext über das Medium vorlegt und ein optimistisches Plädoyer für die Freiheit im Film hält.

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Wahrheit, Wirklichkeit, Film

Filmtechnik ist äußerst flexibel. Ihre Kunstprodukte können phantastisch-poetisch täuschen, aber auch rational-prosaisch dokumentieren. Film spiegelt Welt und ist zugleich selbst eine. Doch diese Weltengrenzen sind fließend, durchlässig, verschiebbar, selbst Inselbildungen ergeben sich. Die Siebte Kunst ist, wie alle ihre Schwestern, der Illusion verpflichtet und noch keine menschliche Wirklichkeit ist ohne Illusionen ausgekommen. Überspitzt, aber dialektisch ausgedrückt, stellt im Film die Wirklichkeit nur eine notwendige Illusion unter anderen dar, während im Leben der Film nur eine von vielen möglichen Wirklichkeiten ist. Und welches Auge wäre geschickt genug, sie immer auseinanderzuhalten, wenn schon die Fachleute sich nicht entscheiden können?

Enthusiastisch verkündete Jean-Luc Godard einst, dass Photographie reine Wahrheit sei, Kino somit Wahrheit 24 Mal pro Sekunde. Brian de Palmas Satz Film lies all of the time, 24 times a second ist ähnlich einseitig, aber lehrt Demut mit seinem brachialen Pessimismus: Kunst ist eben künstlich. Woody Allens Beobachtung wiederum, dass die Wirklichkeit meistens schlechte Fernsehfilme imitiere, weist darauf hin, dass zwischen den Extremen am meisten los ist. Denn, so viel müsste doch nicht erst seit Calderons Das Leben ein Traum oder Lottes „Klopstock!“-Ausruf im Werther bekannt sein: Die dynamischen Beziehungen zwischen Einbildung, Kunst und Leben gerinnen in jeder Epoche zu einem spezifischen Verflechtungsmuster. Von welchem Leitmedium Wirklichkeit informiert wird – ob Theater, Oper, Roman, Kino, Pop oder Poesie – ist eher Schicksals- als Wahlfrage. Heute ist die Wirklichkeit wahrscheinlich vorwiegend eine Mischung aus Streaming-Serien und diversen Social-Media-Accounts.

Künstlerwunschträume und Technik

Wie so viele vergleichsweise moderne Medientechnologien ist Film eigentlich ein Nebenprodukt wissenschaftlicher und industrieller Forschungen, die die Meisterung bestimmter Reproduktionsprobleme von Wirklichkeitsausschnitten bzw. Sinneseindrücken zum Ziel hatten. Photographie und Tonaufnahme gewähren nur unvollständige Kontrolle über Vergangenheit, doch Kontrolle immerhin, indem sie bestimmte Wirklichkeitspartikel dem Zeitstrom entreißen und quasi mumifizieren durch Fixation auf einem neuen Objekt. Wenn vorläufig die Überwindung von Tod und Vergänglichkeit nicht möglich ist, dann wenigstens stellenweise ihre Überlistung. In welchem Maße Filmtechnik dies bewerkstelligt, darüber ist gut streiten, aber sie tut es. Sie ist Teilverwirklichung des damit verbundenen künstlerischen Ur-Wunschtraums von der allumfassenden Wirklichkeitsnachschöpfung – totale, absolut unmittelbare Realitätsimitation vermittels einer Art Gesamtkunstwerk. Anders gesagt: Die ganze Welt müsste ad libitum reproduzierbar sein bis zur Ununterscheidbarkeit von Machination und Wirklichkeit.

Die logische, aber noch größenwahnsinnigere Version hiervon stellt die Hybris von der vollständigen Neuschöpfung dar. Womöglich verschweigt der antike Mythos von Pygmalion dessen viel weitergehende Pläne und kondensierte sie auf das dramatisch besser funktionierende Liebesmotiv. Gottesfurcht macht dagegen bescheiden: Die frommen Visionen der biblischen Propheten vom Ende der Tage überlassen Wiederauferstehung und Allwissenheitsmedien wie das Weltenbuch göttlicher Kompetenz. Die enthemmten biotechnologischen Träume russischer Kosmisten oder US-amerikanischer Transhumanisten von der Wiedererweckung Verstorbener, oder etwas bescheidener ihrer perfekten Simulation durch KI-gesteuerte Datenspeicher, schließen an jene Ur-Träume an. Eine Ironie der Geschichte, dass Film und Kino, in diesen menschlich-allzu-menschlichen Träumen und Wünschen wurzelnd, zu den meistgenutzten Totschlagsmitteln von Lebenszeit gehören – ob nun in Form von Telenovelas oder langen Videoabenden.

Lichtspiel und Blickspiel

Film, wie wir ihn heute kennen, ist ein kollektives Artefakt. Auf der rein materiellen Seite ist jeder Film undenkbar ohne Technik, Handwerkszeug und viel, viel Arbeit. Ästhetisch ist er ein symbiotisches Gemisch aus animierten Bildern, Sprache und Ton, aus Erzählung, Theater und Musik – und oft noch viel mehr – ist geronnene Weltsicht oder Weltanschauung, im wörtlichen wie übertragenen Sinne, von den Träumen und Stimmungen der Zeitalter und Persönlichkeiten ganz zu schweigen. So wird er die üblichen physischen Probleme medialer Formate und dazu die metaphysischen der Künste erben, weder in reiner Wahrheit noch in vollkommener Lügenhaftigkeit aufgehen. Warum sollte Wahrheit sich gerade von einer Kamera fangen lassen, womöglich nackt? Lügen und Illusionen neigen zu Geselligkeit, doch Wahrheit entzieht sich bekanntlich Blicken wie Begriffen. Aber in diesen Feststellungen von Uneigentlichkeit liegt die Freiheit der Kunst: Die des Blicks, seiner Wahrnehmungs- wie Einbildungskraft, den Bewegungen zwischen Illusion und Wirklichkeit, Leben und Traum, sein Voyeurismus, sein Blinzeln, sein Starren, seine Faszinationen und Obsessionen, seine Freuden und sein Darben.

Film, verstanden als Miniaturtraumwelt, ist Spiegelung der Welt und ihrer Grundgesetze – ob in Form von Poesie in Höchstkonzentration oder als Groschenromanprosa. Auch im Film gibt es eine Skala zwischen Fließbandproduktion, solidem Handwerk und hoher Kunst. Die für ihre Distanz- und Sinnlosigkeit berüchtigten Seifenopern und Telenovelas, die zumeist einen voyeuristischen Blick nur aufsaugen, bedienen und manipulieren, und die ihrer künstlichen Überzuckertheit zum Trotz, ähnlich der Zigarette Oscar Wildes, den Betrachter immer nur unbefriedigt zurücklassen, erfüllen noch einen Zweck. Sie mögen wie schlecht gestrickte Märchen Wahrscheinlichkeiten oder Handlungslogiken vergewaltigen, aber immerhin keine Ansprüche. Freiheit, auch zur Belanglosigkeit, zählt mehr als ästhetisch-moralische Gesetzessammlungen. Nur Pedanten und Barbaren gewähren oder verweigern „Daseinsberechtigungen“, anstatt Witterung nach Freiräumen aufzunehmen. Denn höchst selten sind wie alle Meisterwerke jene Filme, die uns in Einübung auf ihr Spiel einen neuen Blick schenken. Es ist schon nicht wenig, wenn wir von einem Film sagen können, dass er eine Geschichte gekonnt oder unterhaltsam erzählt, was bereits ein eigenes Handwerk ist. Und wie viel seltener sind jene Filme, die uns Neues aufzeigen oder lehren, unseren Blick spiegeln, erwidern, mit seinen Begierden, Erwartungen und toten Winkeln spielen…

Die Frage nach der Sichtbarkeit

Seinen eher bescheidenen Anfängen bei Jahrmarktbudenzauber und Kuriositätenschauen, seinen kommerziellen und nicht immer anständigen Neigungen zum Trotz wuchs das Medium Film sich recht schnell aus zu einer Kontinente umfassenden Eigenwelt – alle Genres aufzuzählen ist schlichtweg unmöglich. Ein Desideratum geblieben ist allerdings nach wie vor eine allgemein verbindliche Ars cinematographica, welche die Gesetze und Normen der Kunst bündig zusammenfassen würde. Nichtsdestotrotz wird, wie jede Kunst, auch der Film regelmäßig eingeholt von der Frage nach der Erfüllung seiner Aufgabe. Diese Frage kann nicht endgültig beantwortet oder gelöst werden, sondern muss jedes Mal neu angegangen werden: Es handelt sich, abstrakt ausgedrückt, um die primär handwerkliche Fertigkeit, Geschichten mit menschlichen Figuren zu schaffen, denen ein Publikum beim Handeln und Erleiden zusehen kann und will – nennen wir es, aus aktuellem Anlass nicht ohne Pathos, Menschenbildlichkeit. Authentizität und Genialität sind sekundär, wo es darauf ankommt, Mut zu einer Geschichte zu haben, was „Sentimentalität“, große Gefühle oder eindrückliche Wendungen miteinschließt, im immateriellen Fundus an Mythen, Masken, Figuren und plots das herauszudestillieren, was filmisch funktioniert. Der Western ist sogar heute noch einigermaßen lebendig, weil dieses mythisch inspirierte Genre wie ein Brettspiel Möglichkeiten und Figuren hergibt und somit Freiheit, menschliche Rollen und Probleme konzentriert auszuagieren.

Blinde Filmbilder, darbende Blicke

Das Ungenügen besonders am großen Kino ist seit etwa einem Jahrzehnt ein Gemeinplatz nicht nur in der Kritik. Der Eindruck von Anämie oder Leblosigkeit in einer Kunst ist meist Wetterzeichen, dass sich der Wind bald drehen wird. Freudlosigkeit und Vorhersehbarkeit lugen bereits aus Filmzusammenfassungen und Trailern. Gerade bei Festivals mit einem Schwerpunkt auf dem Autorenkino fällt die Sehnsucht darbender Blicke auf. Selbst der legendär manierierte Rainer Werner Fassbinder wusste zumindest theoretisch, dass Spaß in der Kunst gut für das Bewusstsein ist und nicht umgekehrt. So wie Anfang der 1960er Jahre das Leben zu kurz schien für deutsche Filme und der abgehobene Bombast der US-amerikanischen Studiomaterialschlachten nur noch krampfhaft, könnte heute beklagt werden, dass allzu viele Filme gleichartig und opak wirken, trotz einer auch in der Filmwelt rasanten Globalisierung und vermeintlichen Diversifizierung. Freilich gab und gibt es natürlich Erfolge und Aufregendes. Zu sehr scheint aber das Kino in eine jedem Medium inhärente Falle gegangen zu sein: Das Medium bietet nicht Blick auf Welt und Mensch, sondern nur noch seine eigene Selbstanschauung. Menschliche Figuren, ob im ernsten oder lustigen Fach, sind nur schwer erkennbar, umso mehr eine gequälte, kantig-moderne Puppensteifheit wie aus Entwürfen im Geiste des Bauhauses. Den großen Blockbustern Hollywoods wurde zum Verhängnis, dass, ökonomisch motiviert, bis zum Überdruss getriebene Perfektionismen dominierten. Die Filme wirken eher wie Rechenexempel, Massenware bar jeder Spannung, keimfrei und harmlos. Einsam ragten aus dieser bunten Einheitlichkeit Werke wie der Joker von 2019 heraus.

Währenddessen übten sich wie spiegelverkehrt die Autoren- und Arthouse-Filmer geradezu fanatisch in sozio- oder psychologisch inspirierten Gesellschaftsanalysen, in denen der Mensch als solcher nur noch eine bewegliche Staffage zu sein schien, untergehend in einem übermächtigen, bösen Fatum, in der Regel zusammengesetzt aus „gesellschaftlichen Missständen“. Denen wurde mit dem deus ex machina der befreienden Selbstfindung oder Selbstverwirklichung ein Schnippchen geschlagen, wenn nicht eine schulmäßige Umsetzung des von Amos Vogel vor Jahrzehnten zusammengetragenen Avantgardefilm-Kompendiums zu sehen war. Das andere Extrem dieser völlig abgekapselten Filmwerke, die den Betrachter in einen hoffnungslosen Wachzustand der Bewusstlosigkeit zwingen, stellten Neuauflagen der typisch avantgardistischen Überforderung von Kunst und Leben durch ihre angestrebte Verschmelzung dar. Das letzte Beispiel hierfür war das megalomanische, aber für die Epoche, ihre Sehnsüchte und Obsessionen äußerst bezeichnende DAU-Projekt von Ilja Chrschanowski.

Hoffnung in unwegsamer Kunstlage

Der obengenannte Wind hat sich bereits gedreht: Die stürmische Entwicklung von Netflix & Co. hat dies eindrücklich bewiesen. Ganz natürlich entstanden und entstehen Serien- und Filmformate, die sich neuen Rahmen und Bedürfnissen anpassen, um ihn zu füllen. Das digitale Filmangebot qua Internet erinnert an ein gigantisches, ortloses Nihomachi-Viertel aus Japans Edo-Epoche. In den damaligen Vergnügungsvierteln boten zahllose Theaterhäuser Kabuki-Vorstellungen an, die tagelang gingen und bei denen das Publikum ganz nach eigenem Gusto zu kommen oder zu gehen pflegte, wobei nebenbei selbstverständlich gegessen, getrunken und geplaudert werden konnte. Internet- und Speichertechnologien verlegen nur ein permanentes Entertainment in den privaten Raum, bar aller Rituale und sogar aller Verbindlichkeiten, wie Uhrzeiten oder Bekleidung. Zwar ist auch der kulturelle, gesellschaftliche Rahmen nicht unwichtig, gerade das klassische Kino des 20. Jahrhunderts hatte ja seine Quellen, Rituale, Spielregeln, Anlässe und Zwecke. Aber dies war eben nur eine mögliche, verwirklichte Konstellation unter anderen. Das kleine Wunder des jakutischen Kinos, das einige Jahre nach dem Zerfall der UdSSR begann und noch andauert, zeigt andererseits, dass auch unter schwierigen Bedingungen Kino im „traditionellen“ Sinne als öffentliches Medium möglich sein kann. Verzweiflung ist jedenfalls nicht angebracht, denn warum sollten Film und Kino, diese Schulen und Spielstätten des Blicks par excellence, nicht auch anderes, geschütztes Terrain für sich ausfindig machen und erobern können? Mensch und Kunst haben schon so manchen Technologieumbruch überstanden.

Das Verlangen des Blicks nach anrührenden Filmbildern, nach „großem Kino“, wird auch ohne großes Kino bleiben: Als eine Variante des menschlichen Verlangens nach guten Geschichten, als unsterbliche, aber unlautere – und eben deshalb lebendige – Sehnsucht nach wahren Geschichten. Peter Hacks bemerkte irgendwo, dass es Aufgabe der Kunst sei, die in einer Weltlage versteckte Hoffnung sichtbar zu machen. Fortgesponnen wäre dann Kritik das Sichtbarmachen einer Hoffnung in unwegsamen Kunstlagen, die Hoffnung auf den Fund einer besonderen Sinnfülle – oder im Gegenteil, einer angemessenen Sinnleere. Film ist sowieso derart Teil unseres Lebens wie unserer Wirklichkeit – sei es im Kino- oder anderweitigem Format – dass wir die Augen offen und den Blick wachhalten, auf die Suche schicken sollten, allein schon um unserer Weltkenntnis willen. Und seien wir ruhig sorglos dabei: Gerade Geschmack ist sowieso zu bedingt, als dass auf ihn als Kriterium Verlass wäre. Der junge Goethe wusste, dass im „Elysium des guten Geschmacks“ wenig los ist: Dort gibt es zwar genug Anlässe zu Selbstreflexionen, vor allem aber zum Dösen und Gähnen. „Freiheit geht vor Zucker“ sagt in einem alten deutschen Sprichwort der Vogel und fliegt davon in den Wald. „Freiheit geht vor Wahrheit und Geschmack“ mag der Filmliebhaber sagen – und sich auf den Weg zu neuen Filmbildern machen.

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