Wer heutzutage durch die Innenstädte Europas geht, wird nahezu überall einen ähnlichen Baustil erblicken: quaderförmige Klötze mit flachen Dächern, ohne jede Ornamentik, aufs Funktionelle reduziert, meist hässlich.
Folgt man dem Philosophen Hans-Dieter Mutschler in seinem Buch „Von der Form zur Formel“, so ist diese Architektur als Ausdruck einer tieferliegenden Einstellung zu betrachten, die er als „Kalkülvernunft“ bezeichnet. Darunter versteht Mutschler die Überzeugung, dass die Vielfalt der Welt auf wenige einfache, klar berechenbare Prinzipien zurückzuführen sei. Damit geht eine Elimination des Werthaften und Hierarchischen, der Vertikale, aus dem Denken einher. Real ist für die Kalkülvernunft nur noch die Horizontale. Das Aufkommen der Kalkülvernunft verortet Mutschler bei Galilei, also am Beginn der Moderne und der modernen Naturwissenschaft.
In dem Kapitel über „Ausdrucksphänomene“ weist Mutschler nach, dass die Elimination der Vertikalen in nahezu allen Bereichen unserer Kultur zu entdecken ist: In der abstrakten Malerei, in der atonalen Musik, ja sogar in der Gartenkunst und in der Frisuren- und Hutmode. Überall wird die Vertikale zugunsten der Horizontalen beseitigt. An einer Stelle (S. 85) bringt Mutschler die Kalkülvernunft in Verbindung mit der globalen Herrschaft des Geldes und des Nutzenkalküls. Der sprachliche Ausdruck der Kalkülvernunft lässt sich in den „Plastikwörtern“, die der Sprachwissenschaftler Uwe Pörksen am Ende der achtziger Jahre analysiert hat, finden (auch wenn Mutschler nicht auf Pörksen hinweist).
In einem Kapitel über Thomas von Aquin zeigt Mutschler einen vormodernen Gegenentwurf zur Kalkülvernunft: Eine philosophische Lehre, die von der Werthaftigkeit alles Seienden ausgeht und von einer hierarchischen Stufung dieser Werte: von der Materie über Tier und Mensch bis hin zu Gott. Für Thomas ist alles Seiende durch Wesensformen geprägt, während die Kalkülvernunft in der mathematischen Formel das Wesen der Dinge erblickt. Mit dem Ansatz des Thomas ist eine teleologische Deutung der Natur untrennbar verknüpft: alles Seiende weist einen Strebecharakter auf. In der modernen Kalkülvernunft hingegen tritt an die Stelle der Teleologie die bloße Wirkkausalität, bei der Ursache und Wirkung auf derselben Ebene liegen und sich die Kette der Ursachen und Wirkungen ins Unendliche erstreckt (vgl. S. 151f.).
Während die moderne Kalkülvernunft in den erwähnten Klotzbauten ihren Ausdruck findet, ist der vollkommenste architektonische Ausdruck des hierarchischen und werthaften mittelalterlichen Weltbildes in den Kathedralen jener Zeit zu erblicken (vgl. S. 128). Der hierarchischen Stufung in der Philosophie des Thomas entspricht die Realität der mittelalterlichen Ständegesellschaft. Die moderne Betonung der Horizontalen kann dagegen in eine Parallele zur Idee der Gleichheit aller Menschen und zur Demokratie gebracht werden (vgl. S. 58).
In der Analytischen Philosophie sieht Mutschler die Speerspitze der Kalkülvernunft im 20. und auch noch im 21. Jahrhundert. Entsprechend großen Raum nimmt die Sichtung und Kritik der Programme dieser philosophischen Strömung in dem Buch ein. Mutschler ist hierbei in der Position eines Außenseiters, der selbst nicht an den Debatten der Analytischen Philosophie teilnimmt und dennoch über eine profunde Kenntnis davon verfügt. Dies ermöglicht es ihm, Grundlinien sowie zentrale Kritikpunkte pointiert herauszuarbeiten, ohne Leser zu überfordern, die mit den behandelten Debatten noch nicht vertraut sind.
Dem „praktischen Materialismus“ (S. 15), der in unserer Gesellschaft tonangebend ist, entspricht der theoretische Materialismus der Analytischen Philosophie, die auch heute noch den akademischen Mainstream prägt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten die Vertreter der Analytischen Philosophie im sogenannten „Wiener Kreis“ die Vielfalt der Welt zunächst auf Logik, dann auf Physik zu reduzieren – gemäß den Zielen der Kalkülvernunft, alles mit möglichst einfachen logischen Prinzipien zu erklären.
In dem Kapitel über „Die Entwicklung der Leib-Seele-Debatte“ behandelt Mutschler die Versuche der Analytischen Philosophie, die Dualität von Geist und Materie als Identität zu denken. Das Ziel ist, alles Seelische oder Geistige auf einfache logische, physikalische und später biologische Prinzipien zurückzuführen. Mutschler zeigt anhand dieser Denkbewegungen auf, dass das Kalkül im Laufe der Zeit um immer weitere Prinzipien angereichert wurde, ja werden musste, weil die zu erklärende Sache (in diesem Fall die menschliche Seele) zu komplex und vielschichtig ist, um auf einfache logische oder mathematische Prinzipien reduziert werden zu können.
„Die dabei investierten Prinzipien werden immer stärker und reichhaltiger, was kein Wunder ist. Die menschliche Seele ist äußerst bestimmungsreich und so ist der Kalkül gezwungen, immer neue und disparatere Bestimmungen aufzunehmen, bis er schließlich kollabiert, denn gegen Ende der Entwicklung muss eine werthaft-vertikale Dimension eingeführt werden“.
Nach Mutschler befinden wir uns gegenwärtig an einem Punkt in der geschichtlichen Entwicklung, an dem wir die Grenzen der Kalkülvernunft zunehmend erkennen und wieder die werthaft-vertikale Dimension der Wirklichkeit anerkennen. Mehrfach spricht Mutschler sogar von einer „Epochenschwelle“ (vgl. S. 14, 36 und 132), vor der wir heute stünden. Er sieht eine „gesamtgesellschaftliche Tendenz zur Überwindung von Rationalität überhaupt“ (S. 206) und führt als Beispiele die surrealistische Kunst, die Psychoanalyse und andere Unternehmungen zur Erkundung des Irrationalen an.
Die Kalkülvernunft wird somit heute von zwei Seiten in Frage gestellt: Zum einen aus dem Irrationalen heraus, aus den Tiefen des „Unbewussten“, wo sich die Grenzen des Kalküls deutlich zeigen. Zum anderen aber auch durch die Wiedereinführung des Werthaften und des Teleologischen in die Wirklichkeit, durch eine erneute Würdigung der vertikalen Dimension. Dabei sollte die Präzision der Kalkülvernunft, wie sie sich beispielsweise in den Naturwissenschaften zeigt, nicht aufgegeben, aber auf den ihr zustehenden Bereich beschränkt werden.
//Bereits in seinem großen und wichtigen Essay „Bewusstseinswandel – Ein Gang durch die Kulturgeschichte“ hat sich Daniel Zöllner intensiv mit der permanenten Modernisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse auseinandergesetzt.
Literatur
Hans-Dieter Mutschler: Von der Form zur Formel. Metaphysik und Naturwissenschaft. Zug (Schweiz) 2011.