Worauf können wir unsere Hoffnungen einer kulturellen Renaissance stützen? Auf die Beeinflussung des Feuilletons oder sogar der Infiltration des akademischen Betriebs? Kann es überhaupt Hoffnung auf etwas geben, das außerhalb unser selbst liegt?
Kaum einer der hier anwesenden Leser wird sich von einer Überschrift, die ihm im alltäglichen Medienspektakel begegnet, noch befremden oder gar die Attribute geschmacklos oder irrelevant abringen lassen. Längst hat man sich daran gewöhnen können, dass auch der sich als seriös verstehende bundesdeutsche Journalismus nicht mehr ohne Clickbaits oder reißerische Überschriften auskommt.
Das Feuilleton als „Skandal des Geistes“
Eine solche Tendenz beschränkt sich schon lange nicht mehr nur auf die sogenannten „Illustrierten“. Eine nüchterne, faktenbasierte Tages- oder Wochenzeitung zu führen scheint aus vielerlei Gründen nicht mehr zeitgemäß zu sein: Der auf Skandale und Events getrimmte Leser langweilt sich, er will immer auch Meinungen, Wahrheiten und Konflikte. Das Vergnügen an der gesellschaftlichen Polarisierung und des eigenen Rechthabens ist zudem so hoch wie nie. Auch der Wettstreit der verschiedenen politischen Lager, verkürzt auf die Nenner „Rechts“ und „Links“, zielt nicht auf eine dem anderen Lager zu vermittelnde Wahrheit ab, sondern einzig auf den Angriff der jeweiligen anderen wahrgenommenen Realität.
Wenn man auf den deutschsprachigen Feuilleton- und Kulturbetrieb blickt, zeichnet sich selbstredend eine im nietzscheanischen Sinne „schlimmere“ Situation ab. Und jeder, der diesem Kultur- und Schreibbetrieb seit längerer Zeit Beobachtung schenkt, weiß, dass es sich bei dem Schlimmen nicht geziemt, eine Obergrenze zu ziehen: Einem Essay über Lord Byron muss unbedingt auch eine Reportage aus dem Bereich unter der geistigen und auch physischen Gürtellinie folgen. Kritikwürdig ist das Feuilleton allerdings bereits seit seinem Bestehen, wie der Denker der fundamentalontologischen Differenz Martin Heidegger in einem für ihn untypischen polemischen Ton darstellt und darauf hinweist, das Feuilleton sei gar der „Skandal des Geistes.“
„Aber das Schlimmste an der Zeitung sind nicht die Mord- und Skandalgeschichten, sondern das Feuilleton, weil es sich ausgibt, als wahre es den Geist -; aber es ist nicht nur eine Historie über Morde und Skandale; es ist selber der Mord des Denkens und der Skandal des Geistes.“
Martin Heidegger
Akademische Sackgassen
Doch keine Sorge, sich in konservativ-reaktionäre Jammertiraden über den Verlust der Mitte und der Kultur zu suhlen, soll auch im Jahr 2020 nicht zu unserem bevorzugten Stil werden. Und ohnehin, wer noch immer über den allgemeinen Sittenverfall klagt, kann das höchstens noch ernst meinen, um sich in akademischen Gesprächsrunden als Pseudobildungsbürger selbst zu etikettieren. Aber wo kann unser Weg hinwiesen, wenn die Kulturszene in Gänze entfällt?
Naheliegend wäre ein Hineintauchen in den akademischen Betrieb, sich in die hinten gelegenen Studierzimmer zurückzuziehen und einen Gang durch die abendländische Philosophie mit der Hoffnung auf einen neuen Anfang zu wagen, so wie es der oben zitierte Philosoph vorführte. An diesem Vorgehen ist natürlich nichts auszusetzen, an dem akademischen Betrieb hingegen eine Menge. Jeder, der mal eine Universität oder ein geisteswissenschaftliches Institut von innen gesehen hat und noch immer der Überzeugung ist, hier ließe sich zum Ursprung der letzten Dinge zurückzukehren, um von dort aus einen geistigen Neuanfang zu begründen, dem kann man leider nichts anderes diagnostizieren als eine akute Wahrnehmungsverzerrung. Natürlich wäre ein solcher Anspruch an die Universität auch ein verfehlter, der nur noch durch Akteure gesteigert werden kann, die tatsächlich glauben, es sei möglich den akademischen Betrieb von innen heraus zu reformieren.
Egal ob die Fokussierung auf den akademischen Betrieb oder öffentliche Debattenkultur, es handelt sich jeweils um Facetten derselben Sache: Eine Tendenz, das bewahrungswürdige zu verdrängen und die Aufgeschlossenen für selbiges auf einer höherliegenden Ebene abzufangen. So muss an dieser Stelle auch mit der Illusion aufgeräumt werden, die Krise des Geistes und der Kultur würde zu einem flächendeckenden Aufbruch führen, der die Menschen auf die Suche schickt. Diese genannte Krise ist als solche längst bekannt, als Bestätigung genügt ein Blick in die Buchhandlungen, in der sich Schriften über geistige Orientierungslosigkeit, Vereinzelung, übermäßige Kontrolle durch das Gestell (oder wie man in Frankfurt sagen würde: dem Bestehenden) und den Verlust einer kulturellen Grundlage, die die Menschen zusammenhält, stapeln. All diese Themen sind bekannt und werden stilgerecht von der Kulturindustrie vermarktet und verramscht, so dass kein Durchdringen zu der unteren Ebene, den letzten Dingen, möglich ist. Der große Knall, der große Aufbruch, bleibt aus.
Die Insel als Rückzugsort
Nicht zuletzt deshalb haben wir für unser Projekt einen subtileren, feineren Namen gewählt, der die Nuancen in den Blick zu nehmen imstande ist und sich von dem Getöse der Zeit abwendet, ohne es jedoch gänzlich zu ignorieren. Diese Selbstbeschreibung, die die kleineren Brüche in den Blick nimmt, ist jedoch nicht als ein Hissen der weißen Fahne oder gar als feiger Rückzug zu interpretieren. Ganz im Gegenteil: Dinge um ihrer selbst willen zu tun, kann in Anbetracht des Weltgeschehens an Radikalität kaum überboten werden. Wir leisten uns den intellektuellen Komfort, uns von der Notwendigkeit der Mehrheitsfähigkeit zu lösen, um dadurch einen Freiraum zu schaffen, der fernab von den Übergriffen der Diskurswächter steht. Dieser Versuch ist also immer auch ein im besten Sinne progressiver, der die inneren Funktionen des uns umgebenden Systems ebenso mit einer grundlegenden Kompromisslosigkeit hinterfragen muss wie die eigenen.
Lutz Meyer hat in einem anbruch-Artikel aus dem vergangenen Jahr dafür metaphorisch das Bild einer Insel zu zeichnen versucht. Eine Insel, die in sich ruht und „erhält, was erhalten bleiben muss“. Zugleich bietet die Insel unerschöpfliche Möglichkeiten, denn sie legt frei, was das Dasein eigentlich ausmacht: die metaphysischen Bezugsquellen des Ichs. Diese Bezugsquellen können vielfältig sein, sie können ein Rückgriff auf die letzten Dinge, den Ursprung, sein oder einfache Begegnungen abseits des virtuellen Raums sein.
Seit seinem Bestehen ist anbruch ein organisches Projekt, gewachsen aus den Ideen und Einflüssen seiner Autoren. Wir haben uns nie dogmatisch einem konkreten Konzept unterworfen, sondern einzig und allein dem Bestreben, der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte einen angemessenen Entfaltungsraum zu bieten, erhaben über allen politischen Losungen und Zwängen. Die Frage, welche Form in der Postmoderne dafür die angemessene ist, schwingt in unserem Denken und Tun ständig mit, und Meinungsverschiedenheiten darüber gehören dazu und sorgen dafür, dass wir uns auch weiterhin selbst mit kritischem Blick reflektieren müssen.
Hier werden wir auch in diesem Jahr anknüpfen und freuen uns über jeden, der diesen Weg mit uns geht.