Valentin Weigel: Pfarrer, Mystiker, Dissident

Als Studenten der Theologie stellten wir unserem Professor einmal die Frage, mit welcher Epoche er die heutige Zeit des rasanten kirchlichen Niedergangs vergleichen würde. Seine Antwort: mit keiner, allenfalls mit dem Zeitalter der Reformation.

Das Gefühl einer Zeitenwende, bahnbrechende Fortschritte in den Wissenschaften, neue Kommunikationsmittel, starke Witterungsschwankungen und eine diffuse Angst vor dem Weltuntergang, das gab es auch schon damals. Die kleine mittelalterliche Welt hatte ihre Struktur und ihre Gewissheiten verloren. Seewege und Planetenbewegungen wurden erkundet, die Bibel wurde entdeckt sowie das eigene Gewissen (mitsamt den Gewissensqualen). Kurzum: Neues drang machtvoll ins Bewusstsein und stellte den einzelnen Menschen noch einmal vor Gott und die Welt. Glaube wurde individuell, wurde zur Entscheidungssache.

Die kleine, große Welt des Pfarrers von Zschopau

1525 träumte Dürer eines Nachts von einer mächtigen Sturmflut, die alles mit sich reißen würde. Das war auf dem Höhepunkt der Bauernkriege, die zur ersten großen Enttäuschung über die Reformation führen sollte. Luther hatte sich polternd auf die Seite der weltlichen Machthaber geschlagen und in seinem Sendbrief verbal das Blutgericht an den Aufständischen vorweggenommen. Damit pflanzte er gewollt-ungewollt den deutschen Hang zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit in die kollektive Seele. Die päpstliche Seite zog nach und schärfte in den Sitzungen des Trienter Konzils ihre ekklesiologisch-sakramentale Kontur. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 standen sich dann zwei Kirchen mitsamt ihrem jeweiligen Selbstverständnis gegenüber (die Calvinisten gehörten noch nicht dazu). Das universal-christliche Kaiserreich des Mittelalters war damit Vergangenheit.

Als Symbol hängen die Käfige noch immer im Kirchturm (wikimedia commons).

Diejenigen, die weiter gehen wollten, sahen sich früh an den Rand gedrängt, wurden militant, schwärmerisch oder beides und organisierten sich in apokalyptisch umwehten Predigtbewegungen, von denen die Wiedertäufer die bekanntesten waren. Es handelte sich um von Laien getragene Bewegungen mit klar separatistischer Tendenz, die sich gegen Staat und Kirche gleichermaßen richteten. „Apokalyptik ist immer rachsüchtig“ (Bruno Preisendörfer), so bewiesen es denn auch die Täufer in Münster während ihrer knapp einjährigen Herrschaft. Valentin Weigel war etwa drei Jahre alt, als die gemarterten Leiber der Protagonisten nach den Todesurteilen 1536 in Käfigen an der Lambertikirche in Münster ausgestellt wurden.

Als der bei Dresden geborene, nach breit angelegten Studien (darunter Medizin) in St. Afra, Leipzig und Wittenberg, schließlich 34jährig zum Pfarrer im sächsischen Zschopau ordinierte Valentin Weigel seinen Dienst antrat, war flächendeckende Ernüchterung eingetreten. Es schlug nunmehr die Stunde der Einzelgänger, die von der Glut des reformatorischen Aufbruchs einiges in die Abgeschiedenheit retten konnten und dort, wie etwa der Täufer Menno Simons, fernab der Machtzentren Gemeindestrukturen aufbauten.

Zu diesen Einzelgängern gehört auch Valentin Weigel. Jedoch baut er keine Strukturen auf, sammelt auch keine Jünger um sich, sondern schreibt, nach Dienstschluss, heimlich und für sich (auch wenn einige Schriften unter ausgesuchten Freunden zirkulierten). Und das aus gutem Grund.

In- und auswendig: Gott im Menschen

Valentin Weigel war ein mustergültiger Seelsorger und umsichtiger Pfarrer. Zwar hegte man von höherer Seite den einen oder anderen Zweifel an seiner lutherischen Orthodoxie, doch wurden dogmatische Vergehen nie aktenkundig. Er blieb bis zu seinem Tod 1588 ein untadeliger Kirchenmann, der auf die Confessio Augustana nichts kommen ließ – nach außen hin.

In seinen Traktaten lernt man freilich einen anderen Menschen kennen. Es offenbart sich in ihnen ein nach umfassender Erkenntnis strebender Gottsucher, der die Sakramentalität der Kirchen, ihre Zeichenhaftigkeit, ihre Vermittlertätigkeit und insbesondere den daraus abgeleiteten Gehorsamsanspruch radikal ablehnt. An ihre Stelle setzt er die Kühnheit einer Gotteserfahrung, die er zu einem leib-seelischen Geschehen im Tiefsten des Menschen werden lässt – eines jeden Menschen. Der C. G. Jung-Kenner und Theosophie-Experte Gerhard Wehr vermutete, dass der Zschopauer Geistliche eine aufwühlende mystische Erfahrung gemacht haben muss, aus der seine Lehre gespeist wird, über die er sich aber ausschweigt. Doch nicht nur. Weigel bekennt sich sowohl zum ganzheitlichen Menschenbild des Paracelsus wie zur Mystik des Johannes Tauler. Er spannt den Bogen vom Wissen seiner Zeit zur Botschaft der Heiligen Schrift, an deren Buchstaben er aber nicht klebt. „Erkenne Dich selbst“ ist eine seiner revolutionären Schriften, die es in sich haben. Als Kartograph des Innenlebens entwirft er darin in humanistischem Vokabular eine leib-seelische, quasi psycho-somatische Gesamtschau des Daseins. Die Erde habe zwar eine Materie, sei jedoch nicht aus Materie hervorgegangen, da Gott sie aus dem Nichts ins Dasein gerufen hätte. Ebenso besitze der Mensch einen Körper, einen Geist und eine Seele, die aber nicht nur unterschiedlich beschaffen, sondern ebenso unterschiedlichen Ursprungs seien. Der Leib gehöre zur Erde, zum limbus terrae, der Geist, auch spiritus sidereus genannt, gehöre zu den Gestirnen und die Seele sei als Atem Gottes gleichsam konsubstanziell mit ihm. Nach dem Ableben des Menschen kehren die drei Bestandteile wieder zu ihrem Herkunftsort zurück, wobei Weigel im Fall des Geistes hinter vorgehaltener Hand anmerkt, diesen könne man bisweilen kurz nach dem Tod aus dem Leib eines Verstorbenen zu den Sternen entschwinden sehen.

Überhaupt gehört die Astronomie (und damit auch, was wir heute Astrologie nennen) für ihn zu den Kernwissenschaften, da Makro- und Mikrokosmos sich nach seiner Überzeugung prinzipiell entsprechen. Weigel verbindet mit dieser Dreiteilung auch eine Hierarchie der konstituierenden Elemente und verrät seine neo-platonistische Prägung, wenn er dem Unsichtbaren den Vorrang einräumt. In der Weigelschen Gnosis gilt: „Kein äußerliches Ding den Menschen kann verdammen noch seligmachen.“ Nicht einmal Christus könne einem Menschen nutzen, würde der sich allein auf die Erscheinungen des limbus terrae, d.h. „dieses tödlichen Leben(s)“ verlassen.

Zu diesen Erscheinungen gehört neben dem Staat auch die Kirche. Das ist dogmatisches Dynamit. Denn so sehr die Elemente im Menschen zu finden sind, so sehr sind sie in ihrer Heilsqualität radikal unterschieden: Die Materie, die Natur, sei das Reich des gefallenen Adam, der Geist wiederum sei zwar etwas Himmlisches, doch könnten Sterne einen Menschen auch zum Bösen verleiten, der innere Christus hingegen sei als göttliche Seele im Menschen einziger Garant seines Heils. Zu ihm gelte es in einer Art von zweiter Geburt durchzustoßen. Doch recht wenig ist über die historische Rolle des christlichen Erlösers bei Weigel zu erfahren. Keine Rede von Stellvertretung, Sühnetod oder Auferstehung Jesu Christi oder überhaupt von Heilsgeschichte und Offenbarung. Jesus ist ihm Prototyp des mystisch erlösten und in Gott lebenden Menschen. Der Mensch müsse nur konsequent nach innen gehen und sich entscheiden: Natur oder Gnade, beides sei in jedem vorhanden, das erste als Faktum, das zweite als Potential. Wie aber offenbart sich die Gnade in einem Menschen?

In seinem zweiten bekannten und in Teilen radikaleren Werk „Der güldene Griff“ beschreibt Weigel das Wirken der Gnade als mystischen Eingriff, ja Einschnitt, der dem Menschen überkommt und in „allein leidender Weise in uns geschieht“. Der Mensch empfängt und gebiert sich in seinen Tiefen neu, so neu, dass Weigel ihm zurufen kann: „Also ist Gott im Menschen und der Mensch ist in Gott“. Solch ein Mensch kann dann auch die Natur neu erblicken und neu auf sich nehmen, selbst seine Sünden verlieren vor dieser Gnade ihre verderbende Macht. Von einer Beichte ist da nirgends mehr die Rede. Mehr will oder kann er nicht aussagen. „Es ist besser, ein jeder befindet und erwartet es von Gott in sich selbst, denn dass man viel vom Glauben schwatzt oder schreibt“, so sein trockenes Fazit in „Erkenne dich selbst“. Der Dreißigjährige Krieg ist gerade acht Jahre alt, da werden die Schriften Weigels öffentlich verbrannt. Erst der Görlitzer Mystiker und Theosoph Jacob Böhme wird wieder an ihn anknüpfen.

Der Glaube des Abraham heute

Eingangs war die Rede gewesen von der Reformationszeit als einzig in Frage kommende historische Folie für das, was heute mit den Kirchen und dem Glauben in ihnen geschieht. Valentin Weigel ist ein extremes Beispiel aus jener Zeit für die Konsequenzen, die wache wie sensible Geister aus dem Zustand ihrer Kirche ziehen können. Wohin mit einem Glauben, wenn er nicht mehr verortet werden kann? Wohin mit ihm, wenn er zum bestgehüteten Geheimnis werden muss? Wohin mit einem Gläubigen, wenn er seine kirchliche Heimat verliert? Wohin mit ihm, wenn er dort nicht mehr willkommen ist, da er dem, latent glaubenslosen, Konformismus nicht folgen will, der offenbar den Rang einer theologischen Tugend verliehen bekommen hat?

Es schlägt wieder einmal die Stunde der Anfänge, die Stunde neuer wie uralter Unmittelbarkeit in der Gottesbeziehung, die im Einzelnen ihren Ausgangspunkt hat. Im monotheistischen Kontext erscheint der Vorvater Abraham als archetypische Glaubensgestalt, die heute für viele Entwurzelte an brisanter Aktualität gewinnt. Der Glaube des Abraham ist noch undogmatisch, ist unthematisch und zutiefst individuell. Abraham hätte wahrscheinlich Schwierigkeiten, seinen genauen Inhalt anzugeben. Und dennoch erweist er sich als ungemein dynamisch: Aufbrüche und Umbrüche verlangt dieser Glaube von ihm, der im Beinahe-Opfer des Sohnes Isaak (Gen 22, 1-19) auch einen verstörenden Tabubruch darstellt.

Ein solcher Glaube wird nicht einfach nachvollzogen, ist nicht erlern-, oder imitierbar. Es geht nicht mehr um die „Versicherungspolicen“ oder Gewährleistungen etablierter, machtverwöhnter Religionen, deren Schablonen man nur nachzeichnen müsse, um sich auf der richtigen Seite zu wähnen. Es geht um den Einzelnen und „seinen“ Gott und um die Entscheidungen, welche dieser jenem auferlegen kann. Nicht mehr in der Masse und ihren Vorgaben ausruhen, sondern aufbrechen, müsste die Losung lauten, ganz so, wie Jesus selbst es einem Paralysierten, der bislang immer nur auf das Verhalten der Menge gestarrt hatte, zuruft: „Steh auf, nimm dein Bett und geh“ (Joh 5, 1-9).

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