Tut das Unnütze! – Betrachtungen eines Unpolitischen

Fundamentale Kritik an einem System zu üben, ist leicht. Schwierig hingegen ist es, Alternativen und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, die das Bestehende überwinden können. Warum ist es gerade für einen kulturrevolutionären Ansatz so schwer, Auswege aufzuzeigen? Ausgerechnet Thomas Mann kann den Weg zum Kern des Problems aufzeigen.

Im Sommer 1915 unterbricht der Schriftsteller Thomas Mann seine Arbeit an dem epochalen Werk Der Zauberberg und widmet sich einem Großessay zur Lage der Zeit, den Betrachtungen eines Unpolitischen. Was man hier liest überrascht, wird Mann doch im bundesrepublikanischen Bildungssystem stets als ein Verfechter der liberalen Demokratie gepriesen. In den Zeiten des Deutschen Bürgerkriegs, die Zeit zwischen den Weltkriegen, wehte der Wind jedoch anders und Mann griff zum „Gedankendienst mit der Waffe“. In seinem Essay formulierte er scharf und polarisierte mit antiwestlicher Rhetorik. Doch dieses Werk ist mehr, es zeugt von einem zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vorhandenen eigenen, deutschen Bewusstsein.

Zur Zeit der Veröffentlichung der Betrachtungen war Mann bereits ein angesehener Schriftsteller. Jedoch war er weder ein gelehrter Konservativer, noch galt er als Philosoph, den es zu politischen Stellungnahmen drängte. Auf die Klassiker des Konservatismus wie beispielsweise Edmund Burke oder gar konservative Exponenten seiner Zeit nimmt Mann keinen Bezug. Seine großen Referenzen sind Nietzsche und Wagner. Obgleich sein Essay in den Kreisen der sogenannten Konservativen Revolution lange als Standardwerk galt, scheute er den Kontakt. Umso erstaunlicher ist es, dass Mann aus einer Gegenperspektive zur westlichen Demokratie argumentiert, in einer Weise, die wir heute als konservativ-reaktionär bezeichnen würden. Mann nennt sie unpolitisch.

In der Retroperspektive führen die Betrachtungen unweigerlich zu dem Punkt, dass ein metaphysischer Auftrag Deutschlands, der durch eine kulturelle Grundlage vermittelt wurde, noch stark präsent und im kollektiven Bewusstsein verankert war. Aufgrund dieser Grundlage ist es für Mann selbstverständlich, sich gegen die westliche Demokratie zu positionieren und diese als fremdartiges Element, die eine Veränderung des deutschen Geistes im Sinn hat, wahrzunehmen. Mann sucht nicht, wie wir heute, nach Alternativen zum westlichen Universalismus – sein gesitiger Ursprung in der deutschen Kultur ist seine Alternative.

Der Imperialismus der Zivilisation ist die letzte Form des römischen Vereinigungsgedankens, gegen den Deutschland protestiert.

Für Thomas Mann sind die Deutschen dem Wesen nach unpolitisch. Diese steile These gilt es genauer zu erläutern. Politik, das ist für Mann die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche. Das heißt: die Literatur, die Kunst, das Verständnis sozialer Bindungen usw. werden am Maßstab des Fortschritts bewertet und dadurch in einen Prozess zur Gestaltung der Zivilisation eingebunden, die schließlich in einer Weltdemokratie enden soll. Demokratisierung ist für Mann also, die „geistig-politische Invasion des Westens“. Dabei steht das Telos der Weltdemokratie im schroffen Gegensatz zum deutschen Wesen, das durch die Demokratisierung vollständig ausgelöscht werden wird.

Der politische Geist der bürgerlichen Revolution hat seinen Ursprung im römischen Westen, so Mann. Mit Römischem Westen ist vor allem eine Geisteshaltung gemeint, deren Ziel es ist, die Welt nach einem einzigen vernünftigen, aufgeklärten Prinzip zu gestalten und zu ordnen. Vor allem aber das materielle Interesse leitet und fördert dieses Prinzip. Mann dagegen denkt in Urbildern und Archetypen, die ihren endgültigen Kampf im 20. Jahrhundert ausfechten. Deutschland wird diesen Kampf verlieren, denn eine„Gesellschaft der Menschheit“ könne zwar einen angelsächsischen oder romanischen Charakter tragen, aber sicher keinen deutschen. Die „deutsche Seele“ ist der Austragungsort für die Gegensätze Europas, nicht physisch, sondern geistig –  das ist das Herz des deutschen Individuums.

Schon früh erkennt Mann in dem Prozess der Einbindung Deutschlands in die westliche Zivilisation einen Typus, der uns noch heute begegnet: den Zivilisationsliteraten. Hiermit ist ein Typus gemeint, der tief in die deutsche Seele eindringt und sich vor allem, „für die Heere des Geistes begeistert, mit denen die Zivilisation marschiert“. Dabei wird primär die Literatur und das öffentlich-intellektuelle Leben politisiert und dadurch in den Prozess des Fortschritts, der Zivilisation, eingebunden. Der Zivilisationsliterat spielt eine entscheidende Rolle, die Stellung Deutschlands in dem Konflikt zweier Weltauffassungen von innen her auszuhöhlen. Pikantes Detail am Rande: Heinrich Mann, Bruder des Autors, wird von ebenjenem zum Kreis dieser universalistisch-idealistischen Schriftsteller gezählt.

Der Wille zur Praxis, zur Ethik, zum Imperativ, zum Leben jenseits der tiefsten Erkenntnis ist offenbar typisch national; es ist hingegen deutsch, den Radikalismus ins Geistige zu verweisen und dem Leben gegenüber praktisch-ethisch, anti-radikal sich zu verhalten. Dies ist der eigentliche politische Gedanke und Instinkt des unpolitischen Volkes.

Der Gegensatz zur Politik liegt für Mann in der Ästhetik. Darunter versteht er weniger die Lehre vom Schönen als das Schöpfertum, das für die Struktur des spezifisch deutschen Geistes so immens wichtig ist. Thomas Mann greift hier einen Kernaspekt der Moderne auf, die heute so sehr davon lebt, Strukturen unter Zuhilfenahme der poststrukturalistischen Methode zu dekonstruieren. Skepsis und Relativismus, Kernelemente dieser Methode, gehören zur Politik und sind das Gegenteil von Genie, Urkraft und Natur. Sie sind eben auch Antagonismen des Schöpfertums und der Religiosität. Die Parallele zu Schoppenhauer ist hier unübersehbar: „Die Werke sind unsterblich, und können, zumal die schriftlichen, alle Zeiten durchleben.“

Ebenso wie die Ästhetik gehört eine eigene Form von Individualismus und Gemeinschaftssinn zum Deutschtum in Manns Sinne. Die Kultur ist dabei Selbstzweck und wird, anders als beim Zivilisationsliteraten, keine Ziele deklarieren, die allein der Nützlichkeit dienen. Gerade dadurch beleben sie den Geist. Hierdurch entwickelt sich zugleich eine Eigenart des deutschen Individualismus, der seinen eigenen Sozialismus kennt und keinen Staatssozialismus im marxistisch-leninistischen Sinne benötigt. Durch den Prozess der Demokratisierung wird diese kulturelle Eigenständigkeit Deutschlands jedoch von einer „Nützlichkeitskultur“ abgelöst.

Thomas Mann eröffnet mit seinem Großessay einen Einblick in eine Wahrnehmung, die heute historisch ist. Teilweise wirkt sie befremdlich, denn die Brücke, „die das Heute mit dem Damals verbindet“ ist abgebrochen. Ihre Formen neu aufzunehmen scheint aussichtslos angesichts der Ausbreitung einer globalen Monokultur. Daher können wir von Mann weniger seine Beschwörung des deutschen Geistes übernehmen, als zu lernen, dass es Ansätze und Möglichkeiten gibt, sich dem vereinheitlichenden und vereinnahmenden Blick des Westens zu entziehen, und zwar durch kulturelle Selbstständigkeit. Jene kulturelle Selbstständigkeit fehlt uns heute und hindert uns daran, Alternativen und mögliche Räume aufzuzeigen, die gegen die Nützlichkeitskultur opponieren. Es gilt, ein neues Verhältnis zum Eigenen und dem Heiligen in Form von Kultur aufzubauen. Nur dadurch können wir eine geistige und kulturelle Grundlage schaffen, die sich dem modernen Konsumismus und seiner blutleeren kapitalistischen Monokultur entzieht. Es ist dringend notwendig, dafür neue Formen zu finden. Zu einem abgeschlossenen Punkt der Geschichte zurückzukehren ist aussichtlos, das wusste auch Thomas Mann.

 

Die Überschrift ist dem Gedicht Wacht auf von Günter Eich entnommen.

Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen. In der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, Frankfurt 2015.

 

 

 

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