Stefan George (VII) – Horch was die dumpfe Erde spricht

Der George-Kreis begegnet uns heute zumeist als blasses, historisches Objekt, das seine lyrische Strahlkraft kaum noch entfalten kann. Umso interessanter ist es, einen Autor zu Wort bitten zu dürfen, der persönlich eine große Leidenschaft für Stefan George hegt und darüber hinaus auch biographisch mit dem Kreis verbunden ist. In seiner Jugend traf er durch seinen Vater Friedrich Adam, der selbst Teil des George-Kreises war, auf Persönlichkeiten wie Ernst Bertram oder Kurt Hildebrandt. Auf Einladung der Redaktion stellt Konrad Adam im Folgenden das siebente und somit abschließende Gedicht unserer Reihe vor.

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Viele betrachten das ‚Neue Reich‘, den letzten Band der Gesamtausgabe, als das Vermächtnis Stefan Georges an die Nachwelt. Am ehesten dürfte das auf die zwölf Lieder zutreffen, die am Ende der Sammlung stehen. Kurt Hildebrandt wollte in ihnen nicht nur den Abschluss des ‚Neuen Reichs‘, sondern auch des Gesamtwerks sehen; und dafür gibt es Gründe. Der Dichter hat das Artifizielle, das dem Verständnis seiner früheren Gedichte so oft im Wege stand, hinter sich gelassen. Er spricht in einem schlichten, volksliedhaften Ton, der die Verse bekannt und berühmt gemacht hat. Zu Recht, wie ich meine.

Das Gedicht wirkt wie eine Woge, die heranrollt, sich aufbäumt, den Kamm erreicht, in sich zusammenfällt und verebbt. Es ist die Erde, die da spricht. Sie erinnert den Menschen an seine Herkunft, die er auch dann nicht loswird, wenn er sie nicht mehr kennen will, verunglimpft oder verleugnet. „Dir ward ein spät und neu gesicht“ – spät und neu, gut oder böse, Last oder Verheißung? Das bleibt offen, denn auch dies Gesicht vergeht, ein Opfer der Zeit. Die Woge bricht sich und lässt den Leser mit der Frage zurück, ob es den Mann, „der dies gesicht noch sehen kann“, je geben wird. Und was von ihm, wenn er denn kommt, zu erwarten wäre. Die letzte Zeile, betont abgehoben von den je dreizeiligen Strophen davor, schließt das Gedicht wie mit einem Siegel.

Der Vergleich mit dem Wechselgespräch zwischen Mensch und Drud – ebenfalls aus dem ‚Neuen Reich‘ von 1928 – drängt sich auf. Aber die Situation ist dort eine andere, sie ist konfrontativ und drohend, nicht zweifelnd und evasiv wie hier. Der Drud erklärt dem Menschen, was der nicht hören will: “uns tilgend tilgt ihr euch. / Wo unsre zotte streift nur da kommt milch / Wo unser huf nicht hintritt wächst kein halm.“ Und dann die Lehre: „Nur durch den zauber bleibt das leben wach“. Das ist die Auskunft, des Rätsels Lösung. Das Rätsel hingegen, das die dumpfe Erde stellt, bleibt ungelöst.

Der fehlende Titel ist kein Zufall, die Botschaft bleibt opak. Der Dichter spricht nichts aus und verbirgt nichts, er deutet an: Zweifel an der Moderne und ihrer Lust am Fortschritt. Von der Projektemacherei – Lieblingsbeschäftigung der Progressiven – hält er ebenso wenig wie Goethe, dem das erste Gedicht des ‚Neuen Reichs‘ huldigt. „Ich weiß schon, was dahinter steckt“ murmelt das Volk, als es Mephisto in der Rolle des Hofnarren als Einbläser des Kaisers erkennt, „und was denn weiter? – Ein Project.“ Das Projekt der Moderne.

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