In ihrer mehr als Zweieinhalbjahrtausende währenden Geschichte ist die europäische Philosophie schon so manches gewesen. In ihren ersten Anfängen übte sie mit Sokrates die Hebammenkunst aus, im christlichen Mittelalter diente sie als Magd der Theologie, wurde dann zur strahlend schönen Aufklärerin, verdingte sich zuweilen lustvoll als Hure revolutionärer Umtriebe und droht heute als Sterbebegleiterin im Kultur- und Politikbetrieb eines seiner Selbstauflösung entgegensiechenden Europa zu enden.
Nicht zu vergessen: Zwischendurch wurde sie selbst etliche Male totgesagt. Mal, weil die schlauen Naturwissenschaften ohnehin viel besser darüber Bescheid wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält; mal, weil sie des handgreiflichen Nutzens für Wirtschaftlichkeitsdenken und Alltagsbewältigung zu entbehren schien. Von der Geburtshelferin zur Sterbebegleiterin – ist das das Schicksal der abendländischen Philosophie? Schreiten wir beherzt ein, reißen ihr die alten Fetzen vom Leibe und lassen sie in ihrer ursprünglichen Schönheit und Stärke erscheinen.
Philosophie ist vor allem Fragen. Fragen nach dem Warum: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts? Fragen nach Ursprüngen und Zielen: Woher komme ich, wohin gehe ich? Fragen nach dem Sinn und Ziel unseres Daseins, Fragen nach dem Zusammenhalt menschlicher Gemeinschaften, Fragen nach Wahrheit und Wirklichkeit. Und die Frage danach, was wir überhaupt sicher wissen können und wie sich unser Bewusstsein konstituiert, ob es jenseits unseres Bewusstseins überhaupt eine objektiv erkennbare Realität gibt und wie diese gegebenenfalls zu erkennen sei. Es sind Fragen, die das Verhältnis des Menschen zur Welt und zu sich selbst klären möchten. Fragen, auf die es anders als in Religionen und weltlichen Ideologien keine unumstößlichen Antworten gibt, sondern nur solche Antworten, die weitere Fragen auslösen. Der Frageprozess selbst ist Philosophieren.
Nun ist dieses Fragen kein Selbstzweck. Fragen ist vielmehr das Bahnen eines Denkwegs: ein solches Fragen treibt uns auf unserem Weg voran und führt uns in geistige Landschaften, die wir uns zuvor nicht einmal ansatzweise vorzustellen vermochten. Anders als in vielen heutigen, einst aus der Philosophie hervorgegangenen Wissenschaften ist das Fragen der Philosophie nicht dadurch geleitet, dass man die Antwort schon kennt und die Fragen lediglich als Werkzeug benutzt, um die schon als gesetzt geltende Antwort nachträglich methodisch abzusichern. Hier ist ein Fragen gemeint, das sich tastend voranbewegt und jeder Gewissheit so lange misstraut, bis sie sich als tragfähiger Grund erwiesen hat, von dem aus man sich weiter voranbewegen kann. Ganz so, wie man sich in einer noch nie durchstiegenen Felswand langsam und absichernd gipfelwärts voranbewegt. Das ist Philosophie. Nur dass es für die Philosophie keinen Gipfel gibt, auf dem man sich – der Weisheit teilhaftig geworden – selbstzufrieden ausruhen könnte, sondern nur ein fragendes, ständiges Unterwegssein.
Inwiefern kann diese Art des Fragens uns heute helfen? Und wobei genau könnte es uns helfen? Philosophisches Fragen könnte uns helfen, all die Scheingewissheiten, mit denen wir uns umgeben, als solche zu erweisen. Philosophisches Fragen könnte uns helfen, all die ideologisch fundierten und motivierten Wahrheiten unserer Tage als willkürliche und im Kern Setzungen von oft lächerlicher Schlichtheit zu enttarnen. Philosophisches Fragen hinterfragt Behauptungen, die sich selbst als nicht hinterfragbar ausgeben. Philosophisches Fragen setzt hinter jedes „Du musst!“ und jedes „Du sollst!“ ein Fragezeichen: „Ach wirklich? Muss ich? Warum denn?“ Philosophisches Fragen hat deshalb eine ungeheure Sprengkraft. In früheren Zeiten wurden Philosophen von den Machthabern ihrer Zeit mit Argwohn betrachtet. Wo das Verhältnis ein freundschaftliches war wie zwischen Voltaire und dem großen Friedrich, darf man davon ausgehen, dass es sich um ein gezügeltes Fragen handelte, Voltaire mithin gar kein Philosoph war sondern lediglich der Vorläufer des journalistischen Hofschranzentums späterer Tage.
In ihrer heutigen Form ist die Philosophie harmlos bis zur Erbarmungswürdigkeit geworden, ein Schatten ihrer selbst: Sie lockert Talkshowrunden geistreich auf, prostituiert sich in der Unternehmensberatung, verbrüdert sich mit psychotherapeutischen Ansätzen, geistert durch Soziologie und Politikwissenschaften, wertet Museales durch ästhetische Diskurse auf und verdient sich zuweilen als Hilfswissenschaft etwa der Pädagogik ein kleines Zubrot. Die Philosophie unserer Tage ist so allgegenwärtig, dass sie nirgendwo mehr wesentlich ist. Sie stellt keine bohrenden, jede Selbstgewissheit erschütternden Fragen, ihre einstige Sprengkraft ist einer peinlichen Effekthascherei gewichen. Aus dieser Verschüttung müssen wir sie befreien. Doch wie geht das? Und wer kann das?
Philosophisches Fragen kann jederzeit und überall stattfinden. Für ein wesentliches Fragen im philosophischen Sinne braucht man keine amtliche Anerkennung als Philosoph. Dieses Fragen kann sich unschuldig-naiv geben, es kann drängend und bohrend sein, es kann auch schelmisch oder anarchisch daherkommen. Niemals aber ist es harmlos, immer ist es schmerzhaft – schmerzhaft für den Fragenden selbst wie auch für das in Frage Gestellte und für die von ihm Befragten. Es können Fragen wie die folgenden sein:
Welches Menschenbild pflegen wir eigentlich, wenn wir von der Gleichheit aller Menschen ausgehen? Was meint die Rede von Menschenrechten? Gibt es überhaupt so etwas wie „Menschheit“ oder ist es nicht vielmehr so, dass – wie Carl Schmitt argwöhnte – wer Menschheit sagt, betrügen will?
Erschöpft sich der Sinn unseres Daseins wirklich darin, von einem unterhaltsamen Event zum nächsten zu jagen und ansonsten zu vollkommen verblödeten Konsumidioten zu verkommen? Welches Bild haben wir eigentlich von uns selbst? Wie verhält sich das Menschenbild aus der ersten Frage zum Selbstbild der zweiten Fragestellung?
Wie stellt sich unser Verhältnis zur Natur dar? Ist die Natur wirklich die letztlich unerschöpfliche Ressource, die – wenn wir es nur geschickt genug anpacken und statt fossiler sogenannte erneuerbare Energien nutzen – unseren Allmachtphantasien grenzenlosen Raum gibt? Doch sind Energien überhaupt erneuerbar? Und was bedeutet das: Energie? Und wie deuten wir Natur nach Maßgabe unseres oben erfragten Menschen- und Selbstbildes, wenn wir sie nur als Ressource ansehen?
Wie werden sich Menschen-, Selbst- und Naturverständnis wohl wandeln vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz? Werden alle drei Bezugsgrößen in der uns heute vertrauten Form verschwinden? Wenn ja: Was wird an ihre Stelle treten? Und werden wir dem gewachsen sein?
Fragen wie die hier skizzierten wären nur ein Anfang. Weitere Fragen, wesentlichere, schärfer formulierte und schmerzhaftere, können und müssen folgen, um die Erschütterungen auszulösen, derer wir bedürfen.
Seit ihren ersten Anfängen war die Philosophie stets etwas, was die europäische Geistesgeschichte zutiefst geprägt hat. Diese Prägungskraft ging in der Jetztzeit verloren. Unsere Aufgabe sollte es sein, die prägende, gestalterische Kraft zurückzugewinnen. Das kann nur geschehen, wenn wir wieder zu ernsthaft Fragenden werden und nicht davor zurückschrecken, uns selbst zum Fragwürdigsten zu machen.