War der Gebrauch von dem, was man heute Drogen nennt, in vormoderner Zeit einer Klerikerkaste vorbehalten oder war es ein gemeinsames Ritual religiöser Bewandtnis, so transformierte die Säkularisierung den Gebrauch in einen Mißbrauch.
Die Droge als Weltflucht – unter der in moderner Interpretation zugleich Daseinsflucht verstanden werden kann – analysiert Sloterdijk treffend als wechselseitigen Entzug aus dem Alltag durch die Flucht in diesen hinein wie nicht minder exzessiv aus ihm hinaus. Nur allzu bekannt ist die förmliche Sucht nach Fleiß, nach Arbeit und Studium mit ihrem Derivat der wochenendlichen Sauf- und Sex-Orgien. Wozu also soll man sein Dasein als da sein, als In- der-Welt-Sein begreifen, wenn man die Welt als Mittel gegen sie selbst und das In-ihr-Sein einsetzen kann?
Die Herleitung vom einst rituell-religiösen pharmazeutischen Eskapismus in den Wechsel zwischen zwei nicht am Wesen, sondern am bloßen Sein orientierten Süchten ist nur die Ablösung des religiösen Erlösungsgedankens an einen weltlichen, in dem die Erlösung nicht mehr im Wesen des Suchenden, nicht mehr im Kosmos außerweltlicher Kräfte und Energien, sondern in der Welt selbst, der man mit ihr grundimmanent innewohnenden Optionen wiederum zu entfliehen versucht. Richtig erkannt und so klar in ihrer Kritik an der pseudospirituellen und wesenlosen Seinsform der Moderne ist der Fluchtversuch mit Hilfsmitteln aus dem Gefängnis Gegenwart der „Ernstfall der Privatreligion“.
Die Leere der Freiheit
In seinem opus magnum „Sphären“ knüpft Sloterdijk an diesen philosophischen Topos an, nach dem der Mensch immer auf der Suche nach seiner verlorenen Hälfte sei, auf welcher er sich stets in unterentwickelten, weil zumeist weltlichen, seiner ihm vertrauten Hälfte stammenden Ergänzungserfahrungen übt.
Drogen, genauso aber wie Arbeit, Sekten oder deren Derivate auf der leeren Innenseite bürgerlicher Selbstrepräsentation entsprechen solchen Ergänzungsversuchen, die Sloterdijk als „Schäume“ bezeichnet. Diese überwinden zugleich das Einheitsdenken, indem sie die Vielheit der Eigenwelten eines jeden Einzelnen ausdrücken. Im Medium der modernen Sozialarchitektur werde explizit, wie der Mensch heute in der Welt ist: nicht mehr in einer metaphysischen Einheitssphäre, nicht mehr in eine Kollektivunternehmung eingespannt, sondern als “koisolierte Existenz”.
Einzelne zelluläre Weltblasen sozusagen, die sich über unterschiedliche Medien wie Massenmedien und Marktbeziehungen integrieren und strukturell zu Schaum verdichten. Zugleich aber ist nur wenig einheitlicher und über einen Kamm scherbarer, als der zusammenhanglose kollektive Zwang zum Individualismus, was als Phänomen die Überwindung des Einheitsdenkens wiederum ad absurdum führt.
Die Wahrnehmung des Einzelnen als Subjekt führte zum Umbau der Gemeinschaft in die Gesellschaft, die wiederum durch die fortgeschrittene Subjektivierung ihrer Individuen die Objektivierung des Ganzen zur Folge hatte: Die Masse einzelner frei entscheidender Ichs wird also zu einem kollektiv funktionierenden Menschenschaums aus den Simulacren subjektiver Freiheit. Moderne Gesellschaften funktionieren als jeweils individuelle Reproduktion von Vielheiten, deren Resultat eine pluralistische Ontologie von Einzelumwelten ist – wie Sloterdijkt sagt: Schaum.
Sloterdijks Sphärologie mündet in einem gepfefferten Traktat gegen das „Verwöhnungstreibhaus“, das die Wohlstandsgesellschaft sich als „riesigen Brutkasten für die allumfassend abgesicherte Existenz“ errichtet hat. Mit dabei ist eine unterschwellige aber nicht minder eindeutige Kritik an der Denkweise der Frankfurter Schule: Seitdem wirkliche Armut und Not in unserer Kultur eher die Ausnahme geworden sind, täten sich Gesellschaftskritiker zunehmend schwer als „Anwalt des Realen“ aufzutreten, sondern ordnen die Realität vielmehr ihrer Theorie unter. Wenn nicht sein kann, was nicht sein darf, rückt die – eine der berühmten Sloterdijk’schen Wortneuschöpfungen – „Luxusviktimologie“ in den Mittelpunkt, gipfelnd in Toleranzexzessen. Kurz gesagt: Solange der Kühlschrank gefüllt ist und Brot und Spiele ihr Übriges dazu tun, wird der konsumverwahrloste Gegenwartsmensch aus seiner Schaumblase nur selten hervorlugen, ohne Sloterdijk Marinettis utopische Dystopie vom reinigenden Krieg unterstellen zu wollen.
Gleichheit als Herrschaftsinstrument
Diesen Gedanken unterzieht Sloterdijk in „Die Verachtung der Massen“ seiner anthropophilosophischen Untersuchung, wenn er die Prämisse moderner Staatsführungen beschreibt, sowohl in der nationalistischen als auch der „alternativlosen sozialdemokratischen“ Ausprägung, dass alle Macht nicht mehr von den durch Geburt oder Befähigung Qualifizierten, sondern von den Vielen ausgehe.
Mit Elias Canetti steht gleich zu Anfang sein weiterer Kurs fest: Wohin der Weg führt, weiß die Masse nicht, es ist ihr auch egal. Ziel ist, möglichst schnell dorthin zu gelangen, wo die meisten bereits schon sind. In diesem Ausdruck kollabiert die demokratieromantische Vision beziehungsweise das demokratische Ideal vom kollektiven Subjekt, das weiß, was es will.
Bezugnehmend auf Canetti verleiht die distanzlose Nähe der Einzelnen in der Masse, in der alle Unterschiede schwinden – „alle Trennungen abgeworfen sind“ – Sloterdijks Schaummetaphorik ganz besonderen Nachdruck. So denkt die Massensoziologie den Gedanken der Gleichheit Aller eben nicht von der Voraussetzung der Gleichberechtigung her, sondern vom „gleichzeitigen Sichgehenlassen“. Selten nur hat ein populärtauglicher Intellektueller die Falschheit, die Verlogenheit und die Perfidität der ständigen Gleichheitsmantras präziser unter Feuer genommen! Nun stammt Canettis Untersuchung der Massen aus einer Zeit, als diese sich noch wirklich physisch versammelten; der Sog, die „Menschenschwärze“ ist haptisch erlebbar gewesen. Der „Massenindividualismus“ der Postmoderne dagegen fußt auf der „lonely crowd“, der individuellen Masse, ohne sie als Einzelner als solche erfahren zu müssen, sondern als jeweils Einzelner wie Millionen jeweils andere Einzelne auch durch Medien, Diskurse oder Popkulturphänomene eine Masse zu bilden, die dadurch als Ansammlung vieler Subjekte selbst zum Objekt wird – zum „Rohstoff totalitärer und medialer Herrschaft“. Die simple Steuerbarkeit der sich als frei fühlenden Massen setzt Sloterdijk im seinem winzigen Essay „Letzte Ausfahrt Empörung“ mit dem römischen Brot-und-Spiele-System gleich; noch unverhohlener hat durch „eine Junta von imperialen Berufspolitikern“ das Feld übernommen.
Ekel vor der Vernunft
Die „unversammelbare und unversammelte Masse“ der Postmoderne hat also keinen gemeinsamen Aufschrei mehr, keine Marschrichtung, sondern versammelt sich im Virtuellen oder im wiedergekäuten Konsum, dessen Offerten bereits durch den Pansen der steuernden Eliten vorverdaut worden sind, und macht sich somit nicht nur anfällig für Manipulation, sondern regelrecht führbar wie eine abgerichtete Herde, eine „Masse ohne Potenzial“.
In seinem jüngsten Werk „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ analysiert der Philosoph diese planmäßige Entwicklung weiter und kreiert einen westlichen Universalismus des Nichts-Seins. Europa als jahrhundertelang tonangebender Kontinent ist überflügelt worden von einer „amerikanischen Filial-Kultur“, die sich unter den ökonomischen Tarnkappen blutleerer Mantras wie Freiheit und Demokratie wie ein giftiger Oktopus über den Planeten spinnt und außer wirtschaftlicher Urbarkeit verschiedener Böden lediglich das Erbe weitergibt, das Sloterdijk aus „multikulturellem Kapitalismus oder gemeinschaftlichem Individualismus“, aus „globalem Nationalismus und globalem Nomadentum“ erwachsen gesehen hat, die schlussendlich zum „Scheitern Europas“ geführt und dieses in einen amerikanischen Satelliten transformiert haben. Das daraus wuchernde Erbe sei das Paradoxon, kein Erbe zu haben; verspritzt in alle Welt werden marionettenhafte Menschlinge gezüchtet, gleichgeschaltet im „Bastardentum ihrer Hybrid-Identität.“
Wären nur alle an ihrer Stelle geblieben, so Sloterdijk, den der SPIEGEL „einen Freiheitsfeind in deutscher Tradition“ nennt, hätten sich nur alle an den – im Zweifelsfall göttlichen – Plan gehalten, wäre nur, das ist das ultimative Klischee jedes ernsthaften Reaktionärs, die verdammte Französische Revolution nicht gewesen, die alles durcheinanderbrachte, weil sie dem Menschen den Kopf verdrehte und ihm suggerierte, er habe bestimmte Rechte, die ihm niemand verweigern dürfe – dann wäre die Welt heute nicht so knietief im Desaster.
„Wir sind Vertriebene, fast von Anfang an”, schreibt Sloterdijk. „Wir alle haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht. Sind wir hier, in der Welt, so weil wir nicht würdig waren, an einem besseren Ort zu bleiben.” Die Freiheit also – oder: „Freiheit“, wie er es nennt – ist das Problem; sie ist das Exil, in die Freiheit sind wir „Geworfene”, wie Sloterdijk es mit Heidegger hält, schuldig sind „die Modernen”, unwürdig und illegitim: Niemand hat es je gewagt, mit solch fundamentaler antiuniversalistischer Radikalität gegen die geifernde Götzin „Demokratie“ und ihre pervertierten Scheußlichkeiten anzugehen, niemand je gewagt, ihr schlichtweg jedwede Legitimität abzusprechen oder, wie er bereits in „Sphären“ schreibt: „Im Weltprozeß nach dem Hiatus werden ständig mehr Energien freigesetzt als unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können.”
Obgleich sich der „philosophierende Schriftsteller“, wie sich Sloterdijk selbst gern nennt, politisch nicht positioniert und erst recht nicht vor irgendeinen Karren spannen lassen will, so wächst aus der Lektüre seiner Texte gerade deswegen ein hochspannender Unterbau metapolitischer Feldforschung und Theoriebildung. Seine Kritik der Masse, ihrer Phänomenologie, ja der gesamten so verhassten Gegenwart lässt sich genauso reaktionär wie progressiv lesen.
*Dieser Aufsatz erschien zuerst auf der mittlerweile eingestellten Internetpräsenz “Identitäre Generation” und findet bei Anbruch, in überarbeiteter Fassung, den Weg zur Wiederveröffentlichung. Hier geht es zum ersten Teil.