In der Tat ist es nicht einfach, in der Gegenwart Denker zu finden, die diesen Namen auch verdienen. In der Mehrheit erschöpft sich ihre Aufgabe darin, den theoretischen Überbau einer neuen Weltordnung zu liefern und diesem einen akademischen Anstrich zu verleihen.
Der Mangel an streitbaren Positionen erklärt sich daraus, dass die geisteswissenschaftlichen Thinktanks eigentlich nichts weiter tun, als Erklärungen für gesellschaftlich gewollte Prozesse unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Philosophie zu produzieren. Ihre Gleichschaltung ist also das exakte Gegenteil des von ihnen so gern postulierten „herrschaftsfreien Diskurses„. Diejenigen, die eine Gegenposition zum Vorherrschenden einzunehmen versuchen, sehen sich daher zumeist dazu gezwungen, auf Theoretiker vergangener Zeiten zurückzugreifen. Oftmals wird sich um die Aktualität von Schriften bemüht, die aber in den wenigsten Fällen auf konkrete Herausforderungen der Gegenwart Antworten liefern können.
Moderne Modernismuskritik
Zweifelsohne haben die Vordenker der Konservativen Revolution einen unersetzbaren Beitrag zur (später auch von der marxistisch inspirierten wie faschistischen oder anarchistisch motivierten) Modernismuskritik geliefert; ihre Positionen lassen sich heute allerdings nur schwerlich aufgreifen. Zweifelsohne haben auch Intellektuelle wie der Spanier José Ortega y Gasset oder der kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila einen wertvollen Beitrag zur Wiedereinbringung nicht-weltlicher Ebenen geleistet, ebenso der britische Sozialwissenschaftler Anthony Giddens, der in „Konsequenzen der Moderne“ stocknüchtern die Auswirkungen des „Fortschritts“ seziert. Nicht weniger nennenswert sollen auch Martin Heidegger und Ernst Jünger sein, letzterer insbesondere mit seinem „Waldgang“ auch in ganz praktischer Natur. Aber es bleibt bei gegenwärtiger Anwendung notwendigerweise immer noch der Hauch eines rückwärtsgewandten Apologeten des konkreten Fortschrittsverlierers.
Positiv aus dem Stall der Gegenwartstheoretiker sticht der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk hervor. Der eigenwillige Vielschreiber hat mit Arbeiten wie „Weltfremdheit“, „Zorn und Zeit“ oder auch seinem schmalen aber fulminanten Essay „Die Verachtung der Massen“ wichtige Beiträge über, gegen oder aus dem Zeitgeist gebracht. Zuletzt hat er mit „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“ und “Was geschah im 20. Jahrhundert?” eine Breitseite gegen Liberalismus, traditionslose Amerikanisierung und die förmliche Verhausschweinung des modernen Menschen geschossen.
Kritiker sehen in Sloterdijk einen Schwätzer, der vor allem sich selbst gern reden hört. Zugegebenermaßen ist er kein Autor, der „easy reading“ verspricht, denn er fordert dem Leser mit seinen scharfen Gedankengängen die gesamte Aufmerksamkeit ab. Oft verfällt er dabei geradezu ins prosaische Fabulieren: seine Leidenschaft zum Erzählen drückt sich in jeder Zeile aus, der Klang seiner Worte ist ihm ebenso wichtig wie ihre Botschaft. Sloterdijk hat den Anspruch, möglichst genau zu arbeiten und beleuchtet jedes noch so kleine Detail in verschachtelten Abschweifungen. Dazu neigt er zu Latinisierungen und einem beinahe inflationären Gebrauch von Fremdwörtern, die seine Lektüre nicht immer einfach machen und den Vorwurf der Selbstinszenierung des arroganten Elfenbeintürmers durchaus verständlich wirken lassen. Andererseits aber machen gerade seine Lust am Detail und seine spürbare Freude am Schreiben die Texte zu einer eben nicht nur hochintellektuellen, sondern auch in höchsten Maße vergnüglichen Lektüre.
Selbst durch eine schwierige Kindheit gegangen, zwischen den Zwängen der „Gluckenmutti“ und dem „lieben fernen Papa mit den Seemannstätowierungen auf den ungeheuer starken Armen“ brach der Philosoph bereits in frühen Jahren mit seiner Vergangenheit und machte sich auf die Suche nach dem eigenen und dem kollektiven Wesen der abendländischen Identität.
Von Linken stets wegen seiner messerscharfen Traktate gegen Jürgen Habermas, die Frankfurter Schule und die Vermassung des „Menschenstalls“ verhasst, bekam er auch bei Konservativen durch arrogante Pöbeleien und öffentliche Brüskierungen keinen Fuß auf den Boden. Gerade aufgrund des politischen und gesellschaftlichen Schwebezustands lohnt es sich besonders, sein Frühwerk unter ideengeschichtlichen Aspekten der Gegenwart kritisch zu studieren.
Abwendung von der Gegenwart
Entgegen der Vermutung soll nicht etwa „Die Verachtung der Massen“ als wichtigste Grundlage zur Stütze gegenwärtiger Metapolitik näher betrachtet werden, sondern Sloterdijks „Weltfremdheit“. Weniger als konkrete Anleitung wie Jüngers „Waldgang“ konzipiert, legt Sloterdijk in „Weltfremdheit“ von frühester Kulturgeschichte an die Motivationen zur Abkehr von der Welt dar.
Fremd ist uns die Welt, weil wir ihren Anforderungen nicht entsprechen wollen oder können. Vice versa gilt dasselbe; als Fremdkörper werden wir von der Welt wahrgenommen und abgestoßen, als Störenfriede, die unterworfen gehören oder bestenfalls ignoriert. Am Scheideweg nach der Selbsterkenntnis der Scheußlichkeit stehen wir zwischen „futuristischem Utopismus“ und den „depressiven Formen des Lebens in der Zeit“. Auf der simplifizierten politischen Skala beobachten wir auf der Linken den euphorischen Sturz in traumtänzerischen Utopismus, zur Rechten dagegen die zumeist weinerliche Beschreitung des zweiten Weges ins Jammertal konservativer Unzufriedenheit. Die Auswege nach innen oder in die Zeit vorwärts hinein sind jedoch nur die Horizontalen menschlicher Weltflucht.
„Der Mensch in der Revolte bleibt die Ausnahme“ stellt Sloterdijk folgerichtig fest und skizziert die Majorität als Patienten, als Kranke, die gelernt haben, mit ihrer Krankheit zu leben. Sloterdijk entwickelt eine Ontologie der Selbsterhärtung des Seins in widrigen Welten, dessen Konsequenz sich bei Misserfolg in Depressionen äußert: „Depressiv wird, wer Gewichte trägt, ohne zu wissen wozu.“ Nicht ohne Grund steigt die Zahl der psychischen Erkrankungen mit zunehmender Belastung durch den Zwang der alltäglichen Selbsterhaltung und zeitgleich äquivalent sinkender Sinnerkenntnis des routinierten Tuns. Genau dieses sich darin bergende Potenzial des Depressiven aber bildet die Grundlage zum Waldgang; die Unzufriedenheit mit dem Dasein als seinsbestimmendes Element des Wesens setzt entweder die Erkenntnis der Scheußlichkeit voraus oder zieht sie nach sich. Der postmoderne homo patiens als mit der Welt Überforderter ist also nichts weiter als ein missratener Revolutionär.
Gegen die Welt, gegen ihren Totalitarismus
Revolte soll im Zusammenhang des In-der-Welt-Seins aber keinesfalls nur als Aufbegehren gegen die Welt verstanden werden, sondern vollzieht sich zumeist vor allem aufgrund des zu erwartenden Misserfolgs gegen die Welt als stille Revolte aus der Welt.
Besonders spannend und zum weiteren Verständnis unabdingbar sind dabei der kulturhistorische Abriss der Weltabgewandtheit der frühen Mönche und die daraus folgende ideengeschichtliche Herleitung der Sucht als Krankheit. Zunächst unzusammenhängende Probleme werden spätestens nach dem Kapitel „Das Prinzip Wüste“ zu einem klaren Kreis. Sloterdijk sieht im spätantiken Aufkeimen des Mönchtums die „rationale Organisierung der Probleme“, die aus dem recht schnell hereinbrechenden Gesellschaftswandel resultieren und adaptiert diese in die Gegenwart, wo der Workaholic genauso wie der Karrierist und der Suchtkranke zu einem weltflüchtigen Einsiedler abzüglich religiöser Motivation wird.
Das Problem Gegenwart wird, anstatt transzendental, weltimmanent zu lösen versucht. Diejenigen Probleme, die das Individuum mit seinem In-der-Welt-Sein erfährt, sucht es durch Alternativprobleme aus derselben Welt zu lindern, nachdem ihm die Moderne alternative Ebenen der Weltabgewandtheit genommen hat. Die stetige Suche nach einer möglichst individualisiert erfahrbaren als auch möglichst weit im schwammigen Kosmos des sogenannten Jenseits beziehungsweise vielmehr einer individuell erdachten Form eines Jenseits schließt den Kreis zwischen den zunächst widersprüchlichen, aber doch kohärenten Vorgängen der Säkularisierung, Spiritualisierung und Suchterkrankungen.
„In der Sucht begegnet uns eine individualisierte, das heißt vom Mitwissen der Kulturmitglieder abgespaltene Revolte gegen die Zumutung des Daseins“, woraus Sloterdijk die Konsequenz zieht, daß die Süchtigen „zu souverän sind, um sich die Plumpheit des Daseins zumuten zu lassen“. Nach Sloterdijk ist also der entspiritualisierte Mensch eine notwendige Folge aus dem regelrechten Totalitarismus der Freiheit, der dem geistig-seelisch vollkommen unterforderten Individuum keinen anderen Weg zur Inexistenz lässt, als der Weltflucht im Inneren durch das Äußere.
Die unbefriedigte Sehnsucht nach Welten jenseits der alltäglichen Wahrnehmung des Immergleichen, die Suche nach einem nicht-ökonomisierten Erleben des Ichs gestattet ihm das Entrinnen aus der Sklaverei des Selbsterhaltungstriebes. Die vom Ritual losgelöste Sucht bedeutet ein pseudometaphysisches Experiment unter dem Wunsch, das Zwangskontinuum einer schlechten Realität unterbrechen zu können und projiziert gleichzeitig den Wunsch nach zumindest zeitweiser Erlösung daraus.
Die kulturelle Verwurzelung der Erlösungsreligionen verankerte schon früh den Gedanken der Weltabgewandtheit in manifestierter Form, nämlich in einer „heiligen Verneinung, die sich vom Trug des profanen Daseins abzustoßen versucht.“ Erst durch diesen metaphysischen Bezug zu einer Welt jenseits der als real erlebten macht sich der Suchende daran, diese Welt als eine in ihren Grundfesten schon als falsch erlebte zu entkräften: „Wer mit dem Erlösungsfeuer spielt, steht immer in der Versuchung dem Weltgebäude den Rücken zu kehren und es seinem Ruin zu überlassen – die Apokalyptik geht sogar so weit, seine Zerstörung herbeizupredigen und es, wenn es möglich wäre, von eigener Hand in Brand zu setzen.“
*Dieser Aufsatz erschien zuerst auf der mittlerweile eingestellten Internetpräsenz „Identitäre Generation“ und findet bei Anbruch, in überarbeiteter Fassung, den Weg zur Wiederveröffentlichung. Der zweite Teil erscheint in der kommenden Woche.