Nachdem zur Wendezeit die Literaturkritiker der Bundesrepublik die Schriftsteller der DDR fast nur noch unter dem Kollaborationsaspekt mit dem „Regime“ betrachtet hatten (Michael Stürmer und Ulrich Greiner in der Christa-Wolf-Debatte), geschah es im Jahr 2009, daß in der Wochenzeitung „Zeit“ eine verblüffende Umwertung stattfand: Alexander Cammann konzedierte, daß im Schatten der Macht bedeutende Kunst entstanden sei.
Er schrieb von „zu Unrecht vergessener Vielfalt“, „sprödem Reiz“ und „ästhetische[m] Anspruch“. Ließe man den trivialen Propagandamüll einmal beiseite, beeindrucke der „existenzielle Ernst“, bei dem es immer „um das Ganze und die Ewigkeit ging“.
Cammann verstieg sich sogar zu dem Urteil, daß im Osten „die aufregendere deutsche Literatur“ entstanden sei. Das künstlerische Traditionsbewußtsein, der starke Bezug zum deutschen und europäischen kulturellen Erbe erweckten den Eindruck von Echtheit und kultureller Heimat auch in den Augen vieler Westdeutscher, die sich in einer Projektionsbeziehung von der eigenen ausdifferenzierten Moderne und der ihr folgenden Ermüdung erholen konnten.
So unterkomplex die Wirklichkeit im Vergleich zum marktwirtschaftlich-kapitalistischen Westen auch war, so vielfältig war die Kunst in der DDR. Besonders seit Mitte der 1970er Jahre, als die Intellektuellen nicht mehr die Augen davor verschließen konnten, daß das bestehende System sich keinesfalls auf dem Weg zu einer emanzipierten und demokratischen modernen sozialistischen Gesellschaft befand, sondern in Agonie versank und seine Ideale den Bach hinuntergingen, schuf man sich mit experimenteller Kunst einen Freiraum für ein sich etwas richtiger anfühlendes Leben im Falschen. „Modernes existierte neben Biedermeier, neben Verhaftungen und Überwachung gab es vergleichsweise liberale, hochinteressante ästhetische Debatten in Zeitschriften und Akademien sowie eine eminent anspruchsvolle Lese- und Diskussionskultur, die sich weit vom einstigen Dogma des sozialistischen Realismus entfernt hatte“, wie Cammann richtig einschätzte.
Im Westen waren besonders Autoren von als dissidentisch charakterisierbarer Literatur bekannt, da sie auch bundesdeutsche Verlage fanden. Zu nennen sind hier v.a. Christa Wolf (1929 – 2011), Stefan Heym (1913 – 2001), Günter de Bruyn (geb. 1926), Volker Braun (geb. 1939), Franz Fühmann (1922 – 1984), Erich Loest (1926 – 2013), Sarah Kirsch (1935 – 2013), Günter Kunert (geb. 1929), Adolf Endler (1930 – 2009), Heiner Müller (1929 – 1995), Ulrich Plenzdorf (1934 – 2007), Christoph Hein (geb. 1944), Klaus Schlesinger (1937 – 2001), Jurek Becker (1937 – 1997), Monika Maron (geb. 1941), Lutz Rathenow (geb. 1952), Wolfgang Hilbig (1941 – 2007). (Einige von ihnen sind nach der Biermann-Affäre 1976 in die Bundesrepublik emigriert.)
Sicherlich ist eine Diktatur kein Garant für hochwertige Literatur. Und so manches Pamphlet oder Büchlein wurde nur gelesen, weil es „Stellen“ enthielt, um die zuvor ganz offenkundig heftig mit der Zensur gerungen worden war. Und je länger der real existierende Sozialismus andauerte, desto öfter gab die Zensur nach und die gesellschaftskritische Literatur nahm zu. Aber trotz zahlreicher „Gebrauchsliteratur“ hat die scheinbar graue Zeit manchen literarischen Schatz hervorgebracht. Sprachlich und ästhetisch war die DDR-Literatur im Allgemeinen recht anspruchsvoll. Und thematisch war sie selbstverständlich eng mit den damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden – Kunst war immer politisch in der DDR.
Dennoch werden nicht selten Themen erörtert, die über die sozialistische Realität hinausweisen und allgemeine menschliche und gesellschaftliche Fragen behandelten und kultur- und zivilisationskritische Elemente enthielten. Davon seien hier auf „Anbruch“ ein paar Beispiele, auch von weniger bekannten oder ganz vergessenen Autoren, vorgestellt, die auch heute noch diskussionswürdig wären.
// Kommende Woche erscheint der erste Teil der Reihe über „Schöner Übermut des Herbstes“ von Kurz Nowak.