Seitensprung (2)

Seitensprung: Gegen die abendliche Leseunlust im Bett!

Aldous Huxley – Schöne neue Welt

Aldous Huxley, Schöne neue Welt/Dreißig Jahre danach, Berlin 1958.

Zumeist scheint die allgemeine Begeisterung gegenüber Dystopien darin begründet zu sein, dass diese in der Schilderung von gesellschaftlichen Ereignissen der Gegenwart sehr ähnlich werden und sich zugleich aber doch durch einen ironisch-negativen Grundton abgrenzen. So verhält es sich auch beim Klassiker Brave New World. Aldous Huxley skizziert eine Gesellschaft, in der alle menschlichen Unterschiede ausgemerzt und das Produkt Mensch schließlich standardisiert wurden. Wir erleben eine Diktatur der Wissenschaft, die, gestützt durch ein Kastensystem, die perfekt regulierte Gesellschaft hervorgebracht hat.

Offenkundig leben wir heute nicht einer harten Diktatur der Wissenschaft, dennoch ist das rationalistische Weltbild, das der Wissenschaft zugrundeliegt, das bestimmende unserer Epoche. Alles wird rationalisiert und berechenbar. An diesem Punkt liegt die entschiedenste Parallele zu Huxleys tapferer neuen Welt. Das Einzige, was diese Welt noch im Kern anzugreifen vermag, sind die Sentimente und die Suche nach echten Gefühlen. Tod, Liebe, Hass, Dichtung sind die Elemente, die letztlich auch die schöne neue Welt zum Einsturz  bringen. Schöne neue Welt, das ist eine Erzählung, die den Anforderungen unserer Zeit nur teilweise standhalten kann und dennoch eine subtilere und feinere Dystopie liefert als George Orwells 1984.

„Wir haben keinen Platz für Altes.“

„Auch nicht, wenn es schön ist?“

„Dann erst recht nicht. Schönheit ist anziehend, und wir wollen nicht, daß die Menschen sich von Altem angezogen fühlen. Wir wollen, daß ihnen das Neue gefällt.“

Michael Roes – Herida Duro

Michael Roes, Herida Duro, Frankfurt/Main 2019.

Der deutsche Literaturbetrieb wirft so viele Bücher auf den Markt, dass niemand in der Lage ist, auch nur im Ansatz alles zu sichten, geschweige denn Gutes von Schlechtem zu trennen. Dafür greift man dann auf Empfehlungen von Freunden oder Besprechungen zurück. Beate Brossmann empfahl mir jüngst den mir bis dahin unbekannten deutschen Autor Michael Roes als einen der Besten der Gegenwart. Hellhörig und interessiert spazierte ich stracks in die nächste Buchhandlung, um seinen neuesten Roman Herida Duro zu erstehen. Erst im Nachhinein wurde mir klar, wie äußerst Produktiv Roes bislang gewesen ist. Herida Duro versetzt uns ins archaisch geprägte, ländliche Albanien, das mit den Umwälzungen der sozialistischen Diktatur konfrontiert wird. Die Protagonistin Herida wird von ihrem Vater wie ein Junge aufgezogen, da der Familie ihr männlicher Erbe fehlt: Die Schwurjungfrauen, eine alte albanische Tradition.

Wer anhand dieses kurzen Ausblicks auf den Inhalt eine Abrechnung mit dem Sozialismus oder gar einen queer-feministischen Roman erwartet, könnte falscher kaum liegen. Roes berührt die Sprache so sanft, so eindrucksvoll, dass harte Urteile oder politische Aussagen gar nicht möglich sind, denn wir bewegen uns immer in Zwischenräumen und nie endeutig an einer Stelle. Stattdessen erleben wir Träume, Reisen, traditionelle Erzählungen, Beerdigungen, das harte Leben auf dem Land, die Konfrontation mit der Stadt usw. Herida Duro ist ein dickes Brett, das vom Leser große Aufmerksamkeit und viel Zeit erfordert. Doch es lohnt sich: wir werden aus dem Alltag in eine andere, fremde, eigentümliche Welt entführt. Nicht zuletzt die genaue und detaillierte Recherche des Autors macht diesen Roman so authentisch. Unbedingte Leseempfehlung für laue Sommerabende.

Jean Baudrillard – Amerika

Jean Baudrillard, Amerika, Berlin 2004.

Die Beobachtungen des französischen Poststrukturalisten Jean Baudrillard über Amerika sind so scharf, dass man am liebsten nicht drüber schreiben, sondern nur daraus zitieren möchte. Im Gegensatz zu Tocquevilles Betrachtungen Über die Demokratie in Amerika sind Baudrillards Ausführungen vergleichsweise unbekannt, obgleich diese über die konkrete konstitutionelle Verfasstheit der amerikanischen Demokratie weit hinausreichen und auf den Zusammenahng zwischen weltlicher Entkoppelung und der Denkbarkeit einer globalen Utopie hindeuten.

Maßgeblich für die „metasozialen“ Entwürfe und die „sozialen Ausrottung der Negativität“ ist nach Baudrillard vor allem die fehlende Vergangenheit Amerikas, in der man seine Ideen spiegeln und kritisch reflektieren könnte. Die äußert komplexen Satzkonstruktionen, in die Baudrillard seine Thesen mauert, verlangen große Aufmerksamkeit und versprechen dem Leser am Ende einiges an Belohnung: Hier verbergen sich tiefgreifende Erkenntnise zum Verständnis der modernen Welt.

„Nichts ruft das Bild vom Weltuntergang stärker hervor als ein Mensch, der einsam geradeaus über den Strand läuft, in die Klangwolke seines Walkman eingehüllt, im einsamen Opfer seiner Energie gefangen, selbst einer möglichen Katastrophe gleichgültig gegenüberstehend, weil er Zerstörung nur noch von sich selbst erwartet, von der Erschöpfung eines in seinen Augen nutzlos gewordenen Körpers. […] Tausende von einsamen Menschen, die alle nur für sich laufen, ohne nach den anderen zu schauen, den Kopf voller stereophonischer, sich in ihren Blick ergießender Flüssigkeit: das ist das Universum des Blade Runner, das ist das Universum nach der Katastrophe.“

Benjamin von Stuckrad Barre – Soloalbum

Seit neustem bin ich (mal wieder) auf der Suche nach knackiger Popliteratur, leider vergebens. Lesenswerte Neuerscheinungen scheint es in diesem Genre leider kaum zu geben, und wenn, dann leider ohne doppelten Boden. Wenn ein Lesender also dergleichen kennt, gerne bei mir melden! Diesen von mir gesuchten Tiefgang möchte ich zwar nicht unbedingt Stuckrad-Barre attestieren, aber zumindest schreibt er ehrlich, authentisch, lebensnah. Außerdem gilt Stuckrad-Barre neben dem frühen Christian Kracht als einer der Hauptvertreter der sogenannten Popliteratur.

Benjamin von Stuckrad-Barre, Soloalbum, Köln 2005.

In seinem Debütroman Soloalbum, erstmals 1998 erschienen,  begegnet uns das Leben als ein (schlechter) Popsong. Ein Musiknerd in seinen Zwanzigern wird von seiner Freundin verlassen und sucht seitdem nach neuem Halt in seinem Leben. Diesen findet er jedoch weder in der Musikszene, noch auf irgendwelchen Studentenparties in verrauchten WG-Küchen. Überall umgibt ihn Oberflächlichkeit und der nichtssagende Jargon. Stuckrad-Barre gelingt es, ebenjenes Gefühl der Nichtigkeit gekonnt zu beschreiben und dem Leser diese Leere näherzubringen. Ein akzentuierten, flotter Schreibstil macht das kurze Buch letztlich auch lesenswert, da es uns die Welt in genau der oberflächlichen Sprache präsentiert, die sie (manchmal) verdient. Für Bahnfahrten mit Musik im Ohr und gelegentliche verträumte Blicke aus dem Zugfenster absolut geeignet.

Jörg Fauser – Rohstoff

Jörg Fauser, Rohstoff, Zürich 2019.

Ein Leben als Wachmann, gescheiterter Chefredakteur oder Flughafenpacker zwischen übermäßigem Alkohlkonsum und der Nadel im Arm. Doch der große Traum, Schriftsteller zu werden, stirbt trotz der größten Rückschläge nie. In seinem bekanntesten, autobriogrpahisch angelehnten Roman Rohstoff beschreibt Jörg Fauser das Leben des Herrn Gelb, der niemals etwas anderes wollte, außer schreiben. Dieses Bild hinterlässt Spuren.

Der „deutsche Charles Bukowski“ oder wahlweise auch Jack Kerouac liefert uns eine authentische und glaubwürdige Schilderung der bundesrepublikanischen Lebensrealitäten der „wilden“ 1970er Jahre: Ob er dem Leben in einer anarchistischen Kommune frönt, die Affäre mit einer französischen femme-fatale genießt, dem aufgeblähten und verbonzten Kulturapparat begegnet oder sich in heruntergekommenen Frankfurter Kneipen die Fresse polieren lässt: Die fetten Jahre der Republik waren zu jener Zeit bereits vorbei, und so scheint es wenig verwunderlich, dass der Bodensatz der Gesellschaft auch literarisch nach oben gespült wird. Fauser bietet hier ein Sprachrohr berichtet aus dem „geheimen Deutschland“, das freilich ein anderes ist als nach der Jahrhundertwende. Stuckrad-Barre meint übrigens: „Einer der besten deutschen Romane überhaupt.

„Ich fand die Frechheit schon fast beeindruckend – direkt aus dem akademischen Elternhaus über das Adorno-Seminar in dieses Kulturbonzen-Büro, ein Gesicht, das nicht eine Spur echter Lebenserfahrung zeigte, der ganze Kerl nicht einen Tag im Leben Hunger geschoben und am schärfsten bedroht von seinem Professor, der nach einem Sit-in vielleicht mal geäußert hatte, lassen Sie doch die Faxen, und dann aber einen Mann abkanzeln, der sein Engagement unter Lebensgefahr bewiesen hatte.“

 

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