„Einmal säumig, immer säumig“ – Prosa von Frank Böckelmann

Frank Böckelmann, der wortgewaltige Zeitgeistanalytiker, gewährt in seinem ersten Prosaband einen kleinen Einblick hinter die Kulissen seines Autoren- und Herausgeberlebens. Mit bärbeißigem Humor und notwendiger Selbstdistanz in Verbindung mit der kreativen Ausschreitung der deutschen Sprache gelingt es dem TUMULT-Herausgeber, ein Phänomen aus dem Unterbewußtsein ans Licht zu ziehen, das bisher – so die Kenntnis der Autorin – in der deutschen Literatur kaum thematisiert wurde: das Prokrastinieren. Der Autor buchstabiert dieses Phänomen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen aus.

Die Eigenschaft bzw. Unart der Säumigkeit hat sowohl eine psychologische als auch eine philosophische Komponente, das wird dem Leser alsbald klar. Man kann sich vorstellen, daß der Portugiese Fernando Pessoa, der Spanier Javier Marias oder, von den Franzosen, der unbarmherzige Jean-Jacques Rousseau für ein solches Thema prädestiniert gewesen wären. Das Sujet gehört geistig in die Welt der romanischen Denker, so würde man gemeinhin denken. Aufschieben, aussitzen, sich drücken, ausweichen, trödeln, sich verspäten, unzuverlässig sein – all diese Untugenden und Charakterschwächen werden im Allgemein eher den Mittelmeervölkern zugesprochen. Und natürlich auch den Russen. Iwan Aleksandrowitsch Gontscharow mit seinem Roman „Oblomow“ ist in dieser Beziehung der Klassiker. Wobei der Protagonist dieses 850 Seiten umfassenden Werkes im Grunde die letztendliche Konsequenz des an sich doch recht harmlos klingenden Aussitzens vor Augen führt: es mündet in Müßiggang und Nichtsnutzigkeit, Versunkenheit im Nichtstun bis zur endgültigen Selbstaufgabe. Lenin nannte die Oblomowschtschina die schlimmste Eigenschaft der Russen, da sie alle Reformen und Revolutionen „auflaufen“ lasse. Es handelt sich um innere Widerstände, über die sich der Säumige vielleicht selbst nicht im Klaren ist, die aber verhindern, daß er sich einen Ruck gibt, über seinen eigenen Schatten springt und zupackt.

Im Unterschied zu den romanischen Ländern ist dieser zur Kunst des savoir vivre erhobene Leichtsinn und Schlendrian in unseren Breitengraden nicht typisch, sondern mentalitätsbedingt eher die Ausnahme, so das gängige Stereotyp. Böckelmann scheint uns jedoch eines „Besseren“ zu belehren. Seine Erfahrung lehrt ihn, daß auf einen „Fähigen“ und „Fertiger“ ein mehrfaches an „Schwächelnden“ kommt. Leistende und Säumende würden voneinander angezogen. Sie fänden zueinander. Könner und Versager schreckten aber vor einer zermürbenden Konfrontation zurück. Der Grund ist leicht einzusehen: Bei Unerbittlichkeit des Leistungeinfordernden würde ihm womöglich erbost die Brocken vor die Füße geworfen und er hätte doppelte Arbeit. Und der Saumselige will natürlich sein Scheitern nicht bekennen müssen. Es sieht alles danach aus, daß die klassischen preußischen Tugenden mit den letzten Sauriern der Verbindlichkeit aussterben.

Also rollt der Energische den Stein immer wieder selbst nach oben, in der Hoffnung, „seine Mitarbeiter würden ihr Verhalten aus eigener Einsicht in die gewünschte Richtung lenken können. Er verhielt sich so, als glaube er an eine Komplizenschaft von Müssen, Wollen und Können.“ Und streng, vielleicht zu streng, fällt sein Diktum aus: „Einmal säumig, immer säumig… Die Überforderten brachten gar nichts zustande. Auch die Androhung juristischer Schritte und ein Leben in Schande belebte sie nicht.“

Das klingt nach erblich erworbener Charakterschwäche. Mir scheint hingegen, das massenhaft auftretende Überfordert-Sein und Scheitern deutet darauf hin, daß hier eine kulturell vermittelte Selbstblockade am Werk ist. Böckelmann sieht, daß viele Mitarbeiter auf vier, fünf oder sechs Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Man muß schon ein Genie sein, wenn man dieses Multitasking, dieses Simultanität souverän bewältigen kann und nicht in Konfusion gerät. Die meisten machen das sicherlich nicht freiwillig. Die Konkurrenz, die allgemeine Beschleunigung, der elektronische Kommunikationsterror und der schlechte Verdienst lassen manchem Kreativen keinen anderen Ausweg. Die Zeitkrankheit „Burnout“ hat sicherlich auch hier ihre Ursachen. Die innere Blockade ist eine Reaktion auf zu starken Druck der Verhältnisse. Dazu schreibt der Autor selbst, auf den Kultur- und Wissensmärkten lebe man von Selbstausbeutung, die verfemte Selbstinszenierung hingegen zeuge von Lebenswillen. Die hinzutretende Infantilisierung des Bildungswesens, die das geistige-kulturelle Niveau Jugendlicher und Studenten seit geraumer Zeit sinken läßt, hat an dem Fiasko ebenfalls eine Aktie: „Die Uni war immer noch und mehr denn je (Drittmitteleinwerbung! Aufstiegskampf!) der Ort des betulichen Abgleichs zumutbarer Erkenntnisse.“

Und hier liegt das Dilemma: Böckelmann verträgt kein Mittelmaß. Er will das Besondere. Den besonderen Menschen, den besonderen Denker und Schreiber. Dieser Wunsch bzw. dieses Bedürfnis steht quer zum Zeitgeist. „…eine unmittelbare, eine neugierige Beziehung zur Sache – zur Sprache der Sache…“ ist eine Rarität, die man heute nur noch bei Käuzen vorfindet und deren Wirkungsgrad stark gegen Null geht. Wenn Du Geld verdienen mußt und willst, halte Dich an den Mainstream und grabe nicht zu tief! Bewerte Deine Veröffentlichungen nicht qualitativ sondern quantitativ! Laß Deine Gefühle zu Hause und investiere in eine Arbeit nur das absolut nötige Maß an Verstand, Zeit und Fleiß!

Preußische Säumigkeit ist so gesehen ein Teil des allgemeinen abendländischen, vielleicht sogar globalen Kulturwandels. Diesen können wir Älteren beklagen, wenn er uns als eine Form des Verfalls begegnet. Er kann uns demoralisieren. Die nach uns Kommenden aber werden gar nichts mehr wissen von einem Verlust.

Mancher Satz Böckelmanns könnte aus der Feder des großen Misanthropen und Tiradenschmetterers Thomas Bernhard stammen. Alter weiser Mann: Es will durchlitten sein! In Benn’scher Tapferkeit. Und in Gelassenheit.

Möge der erste Prosaband Frank Böckelmanns nicht sein letzter sein.

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Frank Böckelmann, Die Säumigen. Prosa, Manuscriptum, Lüdinghausen/Neuruppin 2021.

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