Ärzte sind unsere Helden, gerade heute, wo ein heimtückisches Virus international für Horrormeldungen im Halbstundentakt sorgt. Wir wollen von ihnen die Wahrheit hören und möglichst gut soll sie sein. Doch Ärzte sind mitunter auch grausam, wenn sie es sein müssen. Gesundheit und Krankheit sind Fragen der Wahrheit. Und das ist das Metier der Ärzte. Lügen halten sich nicht lange, auch gutgemeinte nicht. Diagnostik und Wahrheitssuche betreiben sie auch dann, wenn es sie in die Schriftstellerei verschlägt. Dort haben sich einige dieser Zunft einen Namen gemacht.
Einer von ihnen, der mit der Wahrheit, vor allem mit der sozialen Wahrheit im 20. Jahrhundert, besonders schonungslos ernst machte, war Louis-Ferdinand Céline (1894-1961, eigentlich Louis- Ferdinand Destouches). Spross einer Kaufmannsfamilie, Kriegsfreiwilliger 1914 und nach Verwundung Handelsvertreter in Afrika, nach Studium der Medizin Amtsarzt beim Völkerbund und dann schriftstellernder Armenarzt (eigentlich Hygienearzt). Céline erscheint er wie der Vorläufer Michel Houellebecqs, bis hinein in die etwas verschlampte Physiognomie sowie in die Vorliebe für Kraftausdrücke aus dem französischen Argot.
In seinen Romanen wird das moderne Leben beinahe durchgehend als Delirium, als Fieberwahn beschrieben, in dem all die Gestalten auftreten, welche die Moderne des 20. Jahrhunderts in Serie hervorgebracht hat: Ausbeuter, Zyniker, Sadisten, Inkompetente, Resignierte und Hilflose, welche untereinander wiederum ebenso verfahren, wie ihre Herren mit ihnen. „Le délire ordinaire du monde“ („Das gewöhnliche Delirium der Welt“, Reise ans Ende der Nacht) war sein Lebensthema.
In „Reise ans Ende der Nacht“, dem Roman, der Céline 1932 über Nacht berühmt machen und zu vielen Missverständnissen führen sollte, begleitet der Leser den Anti-Helden Ferdinand Bardamu durch die menschlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, zumindest die bis zum Erscheinungsjahr bekannten. Wie Simplicius Simplicissimus oder Candide reist Bardamu (Barda war der Ausdruck der französischen Soldaten für ihr Marschgepäck) durch Landschaften menschlicher Agonien. Schlachtfelder des Weltkriegs, Handelsniederlassungen der Kolonialmächte, das Fließband in den USA oder die Behausungen von Patienten eines Pariser Vorortes sind die Stationen eines einzigen Dantesken Höllenkreises, dem niemand entkommen kann. Bardamu betrachtet alles aus dem Blickwinkel der kleinen Leute, zu denen er selbst gehört und die sich gegen die Gewalten des Schicksals weniger wappnen können, als die Reichen.
Es war dieser Blickwinkel, der zusammen mit der schnörkelfreien Sprache des einfachen Volkes dazu führte, dass Céline vor allem von der Linken als einer der ihren gefeiert wurde. Wenige verstanden, dass Céline nicht der proletarische Autor war, für den man ihn nach diesem Roman hielt. Leo Trotzki beispielsweise beklagte den Pessimismus des Buches, vor dem sich jeder echte Revolutionär in Acht zu nehmen hätte. Zu diesem Pessimismus gesellt sich die Obsession des Todesgedankens, der die Werke des Autors wie ein roter Faden durchzieht. Céline erkannte den Todestrieb, der die Zivilisation im geheimen beherrscht und der periodisch (etwa im Krieg) zum offenen Ausbruch kommt. Schon der Unteroffizier fragte sich im Feld, wie es zu erklären sei, dass ganze Regimenter geradezu begierig ins offene feindliche Feuer rannten, die sogleich von anderen Regimentern abgelöst wurden, die genau dasselbe taten.
In Interviews gab der Autor an, Freud, Balzac und Breugel seien seine Leitbilder, später sollte er noch Dostojewski und Shakespeare hinzufügen. Es war diese Visions-Verweigerung, die ihn als Autor seltsam anziehend machen konnte und immer noch kann („refus et vision“, so Henri Godard). Für viele wurde er so zu einem misanthropischen Autor der Freiheit (er selbst bezeichnete sich als Anarchisten). Unterstützt wird diese Wirkung durch den Gebrauch des Humors. Die Sprache der Leidenden ist bei Céline gespickt mit oft derbem Witz, der ihr verbaler Widerstand ist. Der Humor, auch der schwarze (gerade er!) erweist sich für den Hilflosen als letzte Freiheit vor dem Unerbittlichen. Er bewahrt vor dem inneren Zerbrechen, auch wenn draußen die Fetzen fliegen. Célines Romane sind daher immer auch Schelmenromane, die das Leben aufgrund seiner Grausamkeiten letztlich nicht ernst nehmen. In der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts könnte man Erich Kästners unlängst rekonstruierten Roman „Der Gang vor die Hunde“ (1931) Célines Werk an die Seite stellen.
Ferdinand Céline hat in seinen Werken die Seite der Verlierer gewählt, aber nicht nur dort. Seine antisemitischen Tiraden während der deutschen Besetzung und danach, die den Delirien glichen, die er in seinem Werk beschrieben hatte, bestärkten die Isolation, die er zunehmend anstrebte, auch wenn manche Literaturkritiker darin nur eine PR-Aktion vermuteten. Céline wurde zur Inkarnation seiner Helden, ob er sich aus Selbsthass oder aus Hass auf die Zivilisation verächtlich machte, ist schwer zu entscheiden. Richtig ernstgenommen hat er das alles wohl nicht.