Mit seinem 2009 erschienenen Buch „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?“ lieferte der britische Kulturwissenschaftler und Blogger Mark Fisher alias k-punk die „beste Diagnose unseres Dilemmas, die es gibt“ (Slavoj Zizek). Mit dem Konzept des Kapitalistischen Realismus unternimmt Fisher den Versuch, den mittlerweile in die Jahre gekommenen Begriff der Postmoderne als Beschreibung unseres kulturellen Zustands abzulösen. Zudem zeigt Fisher auf, dass psychische Erkrankungen zum Normalzustand in der spätkapitalistischen Gesellschaft geworden sind.
Seinen Vorstoß begründet er mit drei grundlegenden Argumenten:
- Die endgültige Niederlage der Arbeit gegenüber dem Kapital durch das Verschwinden des Klassenbewusstseins (exemplarisch am gescheiterten Bergarbeiterstreik im Großbritannien der 1980er Jahre).
- Die Verflüchtigung der kulturellen Bezugnahme auf den Elitarismus der klassischen Moderne.
- Den 1989 besiegelten Wegfall jeglicher Externalität für den Kapitalismus. Demzufolge sei der Kapitalismus so omnipräsent, so konkurrenzlos, so unhinterfragt, dass er nicht nur als einzig gültiges System der wirtschaftlichen und politischen Organisation gelte, sondern dass eine Alternative nicht einmal mehr vorstellbar sei: Der Kapitalismus kolonisiere die Grenzen unserer Kreativität. Jegliche soziale Handlung sei bereits kapitalistisch prädeterminiert, was besonders für jene Generation gelte, die nach dem Mauerfall geboren wurde. Der Kapitalistische Realismus beschreibt die Atmosphäre einer Geschichte, die vorerst ihr Ende gefunden hat. Veranschaulicht wird jene an den Beispielen der Ausbreitung psychischer Erkrankungen und einer ausufernden Bürokratie. Ersteres wird nachfolgend zum Gegenstand der Betrachtung gemacht.
Lethargie als Normalzustand
Eine Depression ist für Fisher kein rein individuelles, sondern ein vorrangig soziales und somit auch politisches Phänomen. Marktkonforme Selbstverbesserung, andauernde Introspektion, latente Unsicherheit für die Lebensplanung, Überforderung und Lethargie seien verinnerlichte Manifestationen der sozialen Konsequenzen neoliberaler Politik.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt eine Depression als „psychische Störung, die durch Traurigkeit, Interessenlosigkeit und Verlust an Genussfähigkeit, Schuldgefühle und geringes Selbstwertgefühl, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit und Konzentrationsschwächen gekennzeichnet sein kann“. Einordnung über das Ausmaß des Phänomens bietet etwa der britische National Health Service (NHS), der angibt, dass die Depression mittlerweile die am häufigsten behandelte Krankheit im Vereinigten Königreich ist und das Alter der Betroffenen stetig sinkt. An dieser Stelle kritisiert Fisher nicht nur die für sich betrachtet bereits bedenkliche Entwicklung, sondern ebenso den gesellschaftlichen Umgang gemäß dem liberalen Dogma der unbedingten Eigenverantwortung. Psychische Probleme werden „privatisiert“ und von gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen isoliert, so lange die Evaluation lediglich individuelle Erfahrungen und etwaige Unstimmigkeiten in der Hirnchemie berücksichtigt.
Nicht nur diese „klassischen“, medial hinreichend rezipierten Symptome einer Depression sind für Fisher von Interesse, sondern vielmehr jene, die er in seiner Zeit als Fachoberschullehrer bei seinen Schülern beobachten konnte. Der von der WHO beschriebene „Verlust an Genussfähigkeit“ wird von Fishers Schülern konterkariert, die unfähig seien, „irgendetwas außer dem eigenen Genießen“ zu folgen. Aus der Anhedonie der klassischen Depression wird die spätkapitalistische, depressive Hedonie. Viele von Fishers Schülern hätten, trotz dieser vordergründig hedonistischen Einstellung, noch immer eindeutig unter psychischen Problemen, Lern- und Konzentrationsschwächen zu leiden. Es existiere zwar ein vages Bewusstsein des Mangels, aber „kein Verständnis dafür, dass dieser mysteriöse, verfehlende Genuss nur jenseits des Lustprinzips zugänglich sein könnte.“
Laut Fisher sind neoliberale Strukturmaßnahmen hierfür wesentlich ausschlaggebend, da das Disziplinarsystem, welches die schulische Ausbildung früher darstellte, heute durch „Technologien der Kontrolle und ihrem System aus fortwährendem Konsum und kontinuierlicher Weiterentwicklung“ ersetzt wurde. Die unvermittelte, staatliche Kontrolle der Bürger, sichergestellt durch das Durchlaufen entsprechender Institutionen mit Zwangscharakter, wurde im Zuge der Neoliberalisierung aufgeweicht und an Marktmechanismen outgesourced, denen nun auch die staatliche Bürokratie in Großbritannien unterliegt. Disziplinarmaßnahmen, wie das Ausschließen von Schülern wegen Abwesenheit, seien aufgrund der bürokratisch definierten Zielvorgaben, von denen die Finanzierung der Schulen abhängig ist, praktisch nicht mehr vorgesehen. Unmittelbare Konsequenz ist ein undiszipliniertes, lethargisches Verhalten der Schüler, die keine schwerwiegenden Sanktionen mehr zu befürchten haben.
Anstatt ihre gewonnene Freizeit nun mit etwaigen Rechercheprojekten oder anderweitigen, sinnstiftenden Tätigkeiten zu füllen, verfallen die Schüler in „eine sanfte Narkose, eine komfortable Besinnungslosigkeit aus Playstation, Nächten vor dem Fernseher und Marihuana.“ Schon die einfachsten Schulaufgaben stellen die Schüler vor unlösbare Herausforderungen, wobei Unfähigkeit oder Unwillen zumeist mit der vermeintlichen Langeweile des Stoffes begründet werden. Diese latente Langeweile, so Fisher, „bedeutet schlicht, nicht an die kommunikative, die Sinne stimulierende Matrix aus SMS, Youtube und Fast Food angeschlossen zu sein; es bedeutet die Verweigerung eines kurzen Moments des konstanten Flusses der zuckersüßen Befriedigung on-Demand.“ Goethe, Nietzsche, Shakespeare unterliegen somit längst dieser Logik des Konsums, sind längst kommodifiziert. Wenn ein philosophisches Gesamtwerk nicht „auf die gleiche Weise wie [ein] Hamburger“ serviert werden kann, verfalle jegliches Interesse, meint Fisher.
Im Menschbild des Neoliberalismus ist „immer […] das Individuum die Stellschraube, an der gedreht werden muss, um die Anpassungsleistungen [an den Markt] durchzuführen.“ (Andreas Hellgermann, „Neoliberalismus in der Schule“, 2013) Durch Abbau von Hierarchien sollen „Macht- und Disziplinierungstechniken in das Subjekt hinein verlagert“ werden. (ebd.) Jugendliche, die sich diesen Herausforderungen nicht gewachsen sehen, kapitulieren, wie bei Fishers Schülern zu beobachten.
Mit Bezugnahme auf den amerikanischen Kulturwissenschaftler Fredric Jameson, der die Postmoderne wesentlich als eine Periode der verästelten Zeitlichkeit kritisiert, charakterisiert Fisher den Kapitalistischen Realismus hingegen als eine Periode, in der Zeitlichkeit zusammengebrochen sei. Für Jameson zeichnete sich bereits in den 80er Jahren ein kultureller Zustand ab, dessen Elemente nicht mehr im Jetzt wurzeln, sondern willkürlich als aus verschiedenen Epochen zusammengewürfelt erscheinen. Ein kultureller Zeitabschnitt also, dem alle eigenen, spezifischen Merkmale abhandengekommen sind. Die permanente Aufgewühltheit seiner Schüler, die sie mit konstantem Zugriff auf die Vergnügungsmatrix betäuben, ist für Fisher Konsequenz dieses „ahistorischen Zeitalters“, in dem die Fähigkeit verloren gegangen ist, die „Zeit in einem kohärenten Narrativ zu synthetisieren“. Die psychoanalytische Theorie der Schizophrenie, charakterisiert durch eine fragmentierte Subjektivität, ist nach Jameson Teil der kulturellen Logik des Spätkapitalismus:
„Mit dem Zerreißen der Signifikantenkette wird der Schizophrene also auf die Erfahrung einer reinen Materialität der Signifikanten eingeschränkt, […] auf eine Serie nicht zusammenhängender Gegenwartsmomente im zeitlichen Ablauf.“
Der zeitgenössischen Jugend in den Industrienationen, die nichts anderes kennt als diese fragmentierte Kurzzeitkultur, erscheint Zeit und Zeitlichkeit also schon immer als eine Art Facebook-Chronik, in der jedes Posting ein kulturelles Fragment, losgelöst von seinem ursprünglichen Kontext, darstellt.
Soziale Unverbindlichkeit als Bedingung
Dass das menschliche Gehirn wesentlich auf die Ausschüttung von „Glückshormonen“ als Belohnungssystem reagiert, ist dem Cyberspace-Kapital natürlich nicht entgangen. Die „Technologien der Kontrolle“, die das althergebrachte gesellschaftliche Disziplinarsystem ersetzt haben, seien heute weniger auf Arbeiter oder Gefangene angewiesen als vielmehr auf Schuldner und Süchtige. Fisher beschreibt etwa die hyperaktive Aufmerksamkeitsstörung konkret als eine „Pathologie des Spätkapitalismus“, ausgelöst vom Ausschluss des Individuums von der sedierenden Unterhaltungsmatrix. Insofern hat das Cyberspace-Kapital nach Fisher also direkten Zugriff auf unser zentrales Nervensystem, was etwa durch die diesjährige Aufnahme von Videospiel- und Pornografiesucht in die „Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-11)“ der Weltgesundheitsorganisation untermauert wird.
Fisher beschreibt den Kapitalistischen Realismus wesentlich als einen kulturellen Zustand der fortgeschrittenen Deregulation und Nicht-Verortung, sozialer Unverbindlichkeit und der Abwesenheit jeglicher Spezifika als Spezifikum. Die wirtschaftliche Deregulation des Post-Fordismus als Vorbedingung der kulturellen Desintegration des Kapitalistischen Realismus, haben ihre Ursprünge wiederum im Akkumulationsmodell des klassischen Fordismus, der Form der industriellen Warenproduktion, die nach dem ersten Weltkrieg entwickelt wurde. Die Intensivierung der Kapitalakkumulation im fordistischen Modell (Massenfabrik) ermöglichte ein rasches Ansteigen der Reallöhne sowie eine Form der Symbiose, die den Massenarbeiter gleichzeitig zum Massenkonsumenten machte. Nicht erst die postmodernen Zustände haben die „traditionellen, kulturellen Milieus“ und „vorkapitalistischen […] Sozialbeziehungen“ zerstört. (Joachim Hirsch, „Fordismus und Postfordismus“, 1985) Vielmehr war es die industrielle Großorganisation, die sich sukzessive durch gesellschaftliche Sicherheitsmechanismen fraß, Mobilität und Konsumindividualismus erzwang und durch Abbau der traditionellen Sozialstruktur schließlich entsprechende soziale Desintegrationserscheinungen verantwortete. Eine atomisierte und „gewaltsam modernisierte Massengesellschaft“, geprägt von „geldvermittelten sozialen Beziehungen, fremdbestimmter Arbeitsteilung und industrieller Zeitökonomie“ entstand. (ebd.)
Neben dem Interesse der etablierten Industrienationen, einen neuen Dynamismus zur effektiveren Ausbeutung von Produktionsreserven einzuführen, gab es für den Übergang zum post-fordistischen Akkumulationsmodell in den 1970er Jahren auch kuriosere Gründe. Die „Auflösung stabiler Arbeitsmuster“ und die Verflachung von Hierarchien, Kernelemente der post-fordistischen Arbeitsorganisation, waren Teil der Forderungen der Arbeitskämpfe in den 70er Jahren (z.B. „Fordstreik“). Die Vertreter des post-fordistischen Kapitals kamen diesen Forderungen gerne entgegen und die Ansprüche der Arbeiter, sich von der starren fordistischen Routine der Massenfabrik zu emanzipieren, schlugen um in eine zermürbende Flexibilität, in eine Prekarisierung des Arbeitsverhältnisses mit sich abwechselnden Phasen von Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und unaufhörlicher Weiter- und Umbildung. Das nun wesentlich direktere Ausgesetztsein des Arbeiters gegenüber dem „Boom-Bust-Zyklus“ des Kapitalismus wollte ideologisch überbaut werden. Diese Aufgabe übernahmen neoliberale Think-Tanks als „intellektuelle Vorhut zur Schaffung eines ideologischen Klimas, in dem der Kapitalistische Realismus aufblühen konnte.“
Eine Gesellschaft unter Stress
Die Allgegenwärtigkeit des Cyberspace im Zeitalter der digitalen Kommunikation bedeutet Allgegenwärtigkeit von Stressquellen. Die verminderte physische Präsenzzeit am Arbeitsplatz wird durch das home office ersetzt, kombiniert mit der Pflicht zur jederzeitigen Kommunikationsbereitschaft. „Leben und Arbeit werden untrennbar“ lautet die Devise. Die kulturelle Schizophrenie, das „Aufbrechen“ der Zeit in „chaotische […] punktförmige Arbeitsteilungen“, wird in der Unendlichkeit des Internets akzeleriert. Selbst die Art und Weise der Langeweile ist betroffen: Während eine work-life-balance mit tatsächlichen Phasen der produktiven Langeweile im prä-digitalen Fordismus in der Regel noch möglich war, jagen junge Menschen heute oftmals nur noch nach der nächsten Möglichkeit eskapistischer Benebelung.
Zur Verbildlichung der grundlegenden Unterschiede zwischen Fordismus und Post-Fordismus zieht Mark Fisher den Gangsterfilm Heat (1995) heran, den er älteren Klassikern des Genres wie etwa Der Pate, gegenüberstellt. Letzterer sei noch (!) geschwängert mit den „Geistern des Alten Europa“. Don Corleone, der aus dem gleichnamigen italienischen Dorf stammt, ist unhinterfragtes Oberhaupt einer barocken Familiendynastie, geprägt von überlieferten Riten, von Pathos und Mysterium. Das New York City der 1940er Jahre, Kulisse des Films, versprüht den Charme sowie das Lokalkolorit europäischer Prägung. Das moderne Los Angeles von Heat hingegen ist frei von „lokaler Färbung, Essensgerüchen und kulturellen Idiolekten“. Es ist vielmehr eine „Welt ohne Wahrzeichen“, zersiedelt und auf Hochglanz poliert, zusammengewürfelt aus Markenwerbung, Kettenrestaurants und Zweckbauten, die ob ihres Mangels an Identitätsstiftung an jedem beliebigen Ort stehen könnten. Selbst der Name des Hauptcharakters, Neil McCauley, ist anonym, auf einen gefälschten Ausweis zugeschnitten. Seine Crew besteht nicht aus aufbrausenden italienischen Charakterköpfen wie in Der Pate, die einen Eid auf ihre Loyalität geschworen haben, sondern aus eiskalten Profiverbrechern (exemplarisch zu sehen an der Physiognomie eines Val Kilmer), die keine Verbindlichkeiten kennen. Ihnen ist bewusst, dass sie jederzeit austauschbar sind und die Zusammenarbeit keinen persönlichen, sentimentalen Hintergrund hat. In dieser Einstellung erkennt Fisher das Credo der post-fordistischen Arbeitsorganisation wieder: „Nichts Langfristiges!“
Psychische Störungen als Konsequenz
Die „heimliche Seuche“, wie Fisher die Ausbreitung psychischer und affektiver Erkrankungen nennt, nimmt mit dem Aufkommen des Industriekapitalismus in den 1750er Jahren ihren Lauf. Beleg für eine neue Dringlichkeitsstufe: Psychische Störungen haben sich, laut einer britischen Studie, im Vergleich von 1946 und 1970 geborenen Menschen verdoppelt. Eine andere britische Studie kommt zu dem Ergebnis, dass im Jahr 1977 noch 22% der Befragten von psychischen Erkrankungen betroffen waren, im Vergleich zum Jahre 1986 mit 31%. Aus dem „Kinder- und Jugendreport 2019“ der DAK Gesundheit geht hervor, dass bereits 24% der deutschen Schulkinder unter psychischen Auffälligkeiten leiden.
Neoliberale Politik, die sich durch den Abbau staatlicher Sicherheitsnetze und der Befürwortung weiterer wirtschaftlicher Deregulation auszeichnet, greift zusätzlich die Familie als sentimentalen Rückzugsort des Individuums an. Ironischerweise gerät die Familie hierdurch mit ihrer Rolle als „zentrale Instanz der Reproduktion“, also Grundlage des Kapitalismus, in Widerspruch. Kurzum: Der Kapitalismus macht uns krank. Wir sehen uns konstant wirtschaftlichen (Prekarität) und kulturellen (Schizophrenie) Angstzuständen ausgesetzt, denn „unsere zentralen Nervensysteme werden ebenso restrukturiert wie Produktion und Distribution.“ Da das Kapital die Grenzen unserer Kreativität und damit die Grenzen des Erträumbaren setzt, sei von einem baldigen Aufkommen einer alternativen gesellschaftlichen Organisationsform, zumindest mit den traditionellen, längst inkorporierten Formen der Rebellion, nicht auszugehen. Trotzdem markiert dieser Capitalist Cyberspace wohl oder übel die neue politische Arena.
Die gespenstische kulturelle Ödnis, die Fisher beschreibt, ist geprägt von Traurigkeit und Verzweiflung. Eine „Verzweiflung, die den hell erleuchteten corporate spaces [unserer Innenstädte] innewohnt“ und eine Verzweiflung, die Fishers ehemalige Schüler mit dem alltäglichen Tauchgang in die Vergnügungsmatrix zu betäuben versuchten.