Lesetagebuch: Einsamkeiten

Die Corona-Krise hat Europa fest im Griff. Ob berechtigt oder nicht – die Präventionsmaßnahmen zwingen zu einer vermehrten Beschäftigung im häuslichen Umfeld. Quarantäne, Social Distancing oder auch die eigene Unsicherheit bieten aber auch Zeit für Lektüre. Passend zum Thema Einsamkeit drei Literaturtipps.

Einsamkeit – gefügt

Andreas Egger kommt mit ungefähr vier Jahren in das Tal, in dem er sein Leben verbringen wird – als uneheliches Kind. Vom Onkel wird er regelmäßig zur Wutabfuhr benutzt, verdroschen. Andreas Egger kennt keine Individualität in unserem heutigen Sinn, er hat keine Pläne, er gestaltet das Leben nicht aktiv. Das einzige Mal, als er seine einzige Liebe Marie heiraten möchte, tritt so etwas wie Eigeninitiative in sein Leben, aber Marie wird ihm durch ein Lawinenunglück genommen.

Zweimal verläßt Andreas Egger das Tal: Um eine Seilbahn zu bauen und um im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen. Sonst ist er an sein Tal gebunden und erlebt die langsame Veränderung durch Moderne, Fortschritt und Tourismus.

Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“ verdichtet die sieben Jahrzehnte von Eggers Leben in wenige Szenen. Der Spiegel mutmaßte, ob das Buch als Gegenroman zur Globalisierung gelesen werden könne. Vielleicht. Es ist aber vor allem ein Blick in eine vollkommen andere Zeit, als zum Zeitpunkt der Geburt die Entwicklung der meisten Menschen bereits mehr oder weniger vorgeschrieben schien.

Robert Seetahler: Ein ganzes Leben. Hanser, 184 S.

Einsamkeit – spielend

Ihre Individualität verlieren, sich selbst vergessen möchte die Erzählerin in Céline Minards „Das große Spiel“. Dazu kauft sie sich für ihr „Training“, ihre „Behandlung“ ein Areal in der Einsamkeit des Hochgebirges. Dort läßt sie eine Hightech-Survivalhütte errichten, die Einzelteile wurden per Hubschrauber angeliefert. Daß die Frau romantischen Aussteigerträumen abhold ist, zeigt sich bereits an der technischen Ausstattung der Hütte: Solarpaneele, Sanitärvorrichtung, technisch ausgeklügelte Effizienz. Dort oben ist sie völlig autark, „in völliger Autonomie. In Sicherheit.“

In distanzierter Sprache schildert die Erzählerin die Erkundung ihrer Umgebung, Wanderungen, Tierbeobachtungen. Sie kümmert sich um ihre Versorgung mit Nahrungsmittel. Für Céline Minard steht das Buch für eine Standortbestimmung. Ihre Protagonistin „entfernt sich vom Lärm“, erklärt sie Interview mit dem Deutschlandfunk

„Sie zieht sich aus dieser immer so lauten menschlichen Gesellschaft heraus. Sie kappt die Verbindungen zum sozialen Leben und stellt sich einfach ein Stück weiter nach oben. Dadurch gewinnt sie eine Autonomie, die es ihr ermöglicht, aus der Distanz heraus auf die menschlichen Beziehungen zu schauen.“

Doch im Spiel taucht ein ungebetener Gast auf, der neue Fragen aufwirft und eine Herausforderung für die autonome Naturerfahrung darstellt. Im großen Spiel geht es nicht nur um das eigene Überleben und Ausgeliefertsein sondern auch um die Frage, welches Maß an Interaktion das Menschsein ausmacht.

Céline Minard: Das große Spiel. Matthes & Seitz, 185 S.

Einsamkeit – gezwungen

In die Einsamkeit gezwungen wird die namentlich nicht genannte Ich-Erzählerin in Marlen Haushofers die Wand. Sie wird auf einen Jagdausflug in Waldhütte eingeladen. Die Gastgeber verabschieden sich für einen Spaziergang ins Dorf, irgendwann kehrt der Jagdhund zur Hütte zurück. Am nächsten Morgen sind die Gastgeber immer noch nicht zurückgekehrt. Auf dem Weg ins Dorf, um sie zu suchen, stößt der Hund sich an einer unsichtbaren Sperre die Schnauze blutig. Menschen, die die Frau in der Ferne sieht, wirken versteinert. Im Roman spekuliert die Frau, ob es eine besondere Waffe war, die die „Wand“ hervorgerufen hat – der Roman erschien 1963 im Kalten Krieg. Die Frau beginnt Tagebuch zu führen. Sie ist bis auf den Hund völlig isoliert und muß sich mit den Begebenheiten des Waldes und der Hütte arrangieren.

Gemeinsam mit dem Hund, einer Katze und einer trächtigen Kuh richtet sie sich in einem Leben ein, in dem plötzlich wieder die ewig gültigen Dinge eine Rolle spielen: „Geburt, Tod, die Jahreszeiten, Wachstum und Verfall“.

Beeindruckend verfilmt wurde das Buch 2012 mit Martina Gedeck in der Hauptrolle. Noch mehr als im Buch tritt hier die Isolation und ihrer Folgen in den Vordergrund.

Marlen Haushofer: Die Wand. 

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