Julien Gracq – Der Untergang ist unausweichlich

Eines der zentralen Element konservativen Denkens ist der historische und kulturelle Verfall. Wenige Autoren haben sich so intensiv mit Verfall und Untergang beschäftigt wie der in Deutschland nur wenig bekannte Julien Gracq. Doch auch in seinem Heimatland Frankreich war der Schriftsteller selbst – im Gegensatz zu seinem Werk nahezu unsichtbar. Das lag jedoch durchaus im Interesse des Autors. Aus konsequenter Ablehnung des Literaturbetriebes erwuchs Gracqs Maxime, nur das Werk allein zählen zu lassen und den Autor daneben möglichst vollkommen zurücktreten zu lassen.

1910 als Louis Poirier geboren, wählte Gracq seinen Künstlervornamen als Hommage an Stendhals Helden Julien Sorel, während der Nachname hingegen den römischen Gracchen Referenz erweisen sollte. Ab 1930 studierte der Franzose Geographie und arbeitete anschließend als Lehrer. Die Neigung zur Geographie führte Gracq letztlich auf den ihn stark prägenden Jules Verne zurück, dem er es als Verdienst zurechnete, den auf den Menschen zentrierten Roman um die Physiognomie der Erde erweitert zu haben. Aus der Liebe zur Morphologie der den Menschen umgebenden Welt wird sich in seinem späteren Werk eine intensive Schilderung der Landschaft ergeben, die ihrer zentralen Bedeutung im menschlichen Dasein Tribut zollen soll. Bisweilen wird sogar von Geopoesie gesprochen.

Neben der Geographie ist es vor allem der Surrealismus, der Gracq in dieser Phase prägte, hinzu kommen als Einflüsse Wagner, insbesondere Parsifal, und die deutsche Romantik. Aus der Verschmelzung dieser Elemente entsteht 1938 sein erster Roman, „Auf Schloss Argol“, der Anfangs allerdings noch geringe Beachtung fand, nach öffentlichem Lob von André Breton jedoch zu seinem ersten schriftstellerischen Achtungserfolg wurde.

1936 wird Gracq Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs, löst sich mit dem Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Paktes 1939 jedoch sofort von dieser und wird fortan jede politische Stellungnahme verweigern. Etwa zeitgleich wird Gracq als Offizier eingezogen und erlebt den „drôle de guerre“ an der deutsch-französischen Front. Die Erfahrung planloser Tätigkeit und angespannter Untätigkeit bei vollem Bewusstsein der Überlegenheit eines straff organisierten Gegners mit unbedingtem Willen zum Sieg – ein Wille, der in einem selbst schon lange erloschen ist – wird Gracq verschiedentlich literarisch verarbeiten: Sehr unmittelbar in „Ein Balkon im Wald“ (1958), in mythisch-allegorische Welten hingegen in „Das Ufer der Syrten“ (1951) und „Das Abendreich“ (1952) und dokumentarisch in seinem 2011 posthum erschienenem Kriegstagebuch. In letzterem zeigt sich bereits, dass Gracq die besinnungslose Lust am eigenen Untergang gut kannte, so notiert er nach Bekanntwerden des Einschlusses seines Truppenteiles:

„Jetzt sind wir umzingelt. Es ist eine wirkliche Phantasmagorie. In Anbetracht der Lage verspüre ich beinahe eine Gier nach noch mehr, nach katastrophalen Meldungen, und das Bedürfnis, mit dem Unerhörten über das Beängstigende zu triumphieren.“

Das ohnmächtige Missverhältnis zwischen eigener Truppe und Gegner wird bei Gracq sehr deutlich:

„In diesem kurzen Krieg habe ich fast immer gesehen, wie die Männer rund um mich zögerten, das Feuer zu eröffnen, weil sie Gewissheit hatten, dass sie – anstatt dem Feind zu schaden – auf sich selbst deuteten und von vorneherein davon überzeugt waren, nicht das letzte Wort zu haben“

Und:

„Die geringsten, noch so winzigen Anzeichen von Aggressivität und dem Willen zum Sieg sprechen auf dem Schlachtfeld – und mit welcher Heftigkeit! – zur Seele“

Man darf annehmen, dass die elementare Erfahrung eben dieses Missverhältnisses zwischen altersmüder Zivilisationspassivität und rücksichtsloser Urkraft, die Gracq im Krieg erlebte, ein entscheidender Impulsgeber für sein literarisches Werk war, wie wir noch sehen werden.

Im Juni 1940 wird Gracq bei Dünkirchen gefangen genommen und als Kriegsgefangener in ein Lager nahe Hoyerswerda verbracht. Eine Lungenerkrankung führt im Frühjahr 1941 zu seiner Entlassung aus der Gefangenschaft und zur Rückkehr nach Frankreich und der Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit.

Noch während des Krieges fällt Gracq zufällig Jüngers „Auf den Marmorklippen“ in die Hände. Laut eigener Aussage wird die Lektüre nicht nur im Hinblick auf seine schriftstellerische Tätigkeit, sondern auch für sein gesamtes Leben zu einem einschneidenden Erlebnis, so würde er nach eigener Aussage ganze Literaturjahrgänge für die „Marmorklippen“ eintauschen. Nach dem Krieg wird Gracq nicht unbeträchtlich zur Popularität von Jüngers Werk in Frankreich beitragen, zudem entwickelt sich eine freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden Autoren.

Im Jahr 1951 erscheint mit „Das Ufer der Syrten“ Gracqs bekanntester Roman, für den er bereits 1952 den Prix Goncourt erhält, den er jedoch als erster Rezipient überhaupt ablehnte. Ab 1953 arbeitet Gracq an „Das Abendreich“, das jedoch nie vollendet und erst 2014 posthum veröffentlich wurde. 1958 folgt dann mit „Ein Balkon im Wald“, die Verarbeitung des „Sitzkrieges“, allerdings nicht aus eigener Perspektive, sondern verlegt in die Ardennen. Dazu kommen der etwas aus der Reihe fallende Roman „Der Versucher“ von 1945, sowie zahlreiche Essays, Notizen und kleinere Schriften. Trotz dieses überschaubaren Werkes zählt Gracq zur nur 18 Autoren umfassenden Gruppe von Autoren, die bereits zu Lebzeiten in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen wurden.

Gemeinsam ist den drei Nachkriegsromanen „Ein Balkon im Wald“, „Das Ufer der Syrten“ und dem unvollendeten „Abendreich“ die Festung, von der nicht immer ganz klar ist, ob sie noch Vorposten, bereits Front oder gar schon im feindlichen Hinterland ist. Immer jedoch ist sie getrennt von der Zivilisation, die zu beschützen sie eigentlich erbaut wurde. Diese Trennung ist dabei nicht nur explizit räumlich durch beschwerliche Zugangswege gegeben, sowie aus der Spannung zwischen Hauptstadt und Peripherie, sondern auch durch die geistige Distanz, ja sogar Ablehnung derer, die die Festungen noch bemannen:

„Im Grunde liebte das Königreich sein eigenes Bild nicht, für welches weit von seinen Grenzen kleine Gruppen kämpften wie verlorene Kinder, ein Bild, von dem es ahnte, dass es heroisch war und verjüngt durch eine ganze Schwade vergossenen Bluts, ein Bild, gegen das sich alles in ihm sträubte und das es gleichzeitig faszinierte, weil es über dicke Schichten der Selbstaufgabe und Erschlaffung hinweg das Gespenst einer Möglichkeit war, der Möglichkeit, zu der es sich wider Willen berufen fühlte und die es – es lag nur an ihm – noch einmal verwirklichen konnte.“

Typisch für Gracq ist mit Ausnahme von „Ein Balkon im Wald“ auch die zeitliche und räumliche Unbestimmtheit, die ihn wiederum mit Jüngers Prosa-Werken, aber darüber hinaus auch mit Buzzatis „Tatarenwüste“ verbindet. Wie Jünger arbeitet Gracq mit archetypischen Land- und Gesellschaftsformen. Die Stadt, die Steppe, die Festung, das Meer, all das wird nur grob in einen jeweiligen, stets vormodernen Kulturkontext gesetzt. Hinzu kommt das intensive Gefühl des unmittelbar bevorstehenden Untergangs – die Mauern sind alt und der Wille zur Selbstbehauptung ist schwach geworden. Wie Gracqs Soldaten im Zweiten Weltkrieg fürchtet man, die Aufmerksamkeit des Feindes auf sich zu ziehen, allein durch die Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit der alten Festung den Feind zum Angriff zu provozieren. Und ist der Feind nicht vielleicht schon innerhalb der Mauern oder im Hinterland der Festung? Diese sich seit langem abzeichnende Bedrohung muss unweigerlich zur Apokalypse der Zivilisation führen, die aber auch, im eigentlichen Wortsinn, eine Entschleierung der fiebrigen Erwartung ist. Insofern hat Gracqs zentrales Thema gerade in den letzten Jahren an gesellschaftlicher Relevanz hinzugewonnen, ziehen sich doch apokalyptische Ahnungen durch alle politischen Strömungen, ganz gleich ob das Ende nun in Gestalt des autoritären Nationalismus, der Massenmigration oder des Klimawandels seinen Schatten auf uns wirft.

Auswege bietet Gracq nicht an. Der Kampf mag ehrenhaft sein, der Untergang ist jedoch unausweichlich. Den letzten Hauch einer Hoffnung bietet allein die Besinnung auf das Ursprüngliche, das Gewachsene:

„Es gibt eine Sorte von Philosophen, die wie die Flechten auf den Trümmern gedeihen, sie loben als Nahrung die Luft und verdammen die fette Erde. Sie warnen dich vor der Nichtigkeit der Erfahrung und krächzen wider alles, was nicht der Erschöpfung entsprang. Aber glaub mir, tiefe Wurzeln schlagen, das ist der Mühe wert.“

Der Wunsch Gracqs, Werke so tief aus dem Grund seiner eigenen Sprache zu schöpfen, dass sie unübersetzbar wären, erfüllte sich für den deutschen Leser zum Glück nicht. Das muss unter anderem dem Droschl-Verlag hoch angerechnet werden, der in den letzten Jahren vorbildlich editierte Ausgaben der einzelnen Werke herausgebracht hat.

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