Es ist kalt in Feuerland. Am Südzipfel des amerikanischen Kontinents, dort, wo die Elementargewalten dreier Weltmeere aufeinanderprallen, Regen und Hagel wie Eiszapfen vom Himmel fallen und eisige Winde das Atmen erschweren, hat ein Stamm seine Heimat gefunden. Die Kaweskars, die „Menschen“ wie sie sich selbst nennen, haben eine jahrtausendelange Odyssee hinter sich gebracht, um ihr Nomadenleben in völliger Abgeschiedenheit zu führen. Von anderen Indianerverbänden aufgrund ihres hässlichen und groben Erscheinungsbildes sowie ihrer „Zurückgebliebenheit“ unablässig vertrieben und verfolgt, durchquerten sie den gesamten amerikanischen Kontinent, von Alaska bis ans südliche Ende Patagoniens. Der Kontakt mit der Zivilisation, zunächst in Form von europäischen Entdeckern, war jedoch der Anfang vom Ende für das Leben der Feuerlandindianer.
Ebenjenem Stamm widmete der französische Schriftsteller Jean Raspail seinen Roman „Sie waren die ersten“ aus dem Jahr 1986, in welchem er dem Leser die Geschichte und den Leidensweg der Feuerlandindianer, der Kaweskars, schildert. Der weitgereiste Romancier, der die im Buch thematisierte Weltgegend durch eigene Expeditionen kennenlernte, verwebt eigene Erfahrungen und Bilder mit dem historischen Kontext, angefangen vom Exodus der Kaweskars bis hin zu ihrem allmählichen Verschwinden gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Zeit ihrer Existenz waren die Kaweskars ein Volk auf der Flucht. Die unablässige Vertreibung, die die Stämme dezimierenden Kämpfe sowie die damit einhergehende omnipräsente Furcht vor andersartigen Menschen, schlug sich auch in den rudimentären religiösen Regungen der Feuerlandindianer nieder. Ihre spirituelle Welt wird von drei mächtigen Wesen dominiert, in derer der schreckenerregende Ayayema des nachts die Seelen heimsucht. Der Berggeist Mwono und der nach Moder riechende und die Meere beherrschende Kawtscho lassen den Indianern ebenfalls keine Ruhe und bestimmen das Handeln und Denken der Indianer in jedem Moment.
Raspails Geschichte dreht sich hauptsächlich um Lafko, den Anführer einer der zunächst noch zahlreichen Sippen. Durch die Schaffung dieses fiktiven Charakters gelingt es Raspail, dem Leser die Lebenswelt sowie das Denken und Fühlen der vom Schicksal verdammten Kasweskars näherzubringen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Namen der Indianer stets gleichbleiben, obwohl auf knapp 300 Buchseiten tausende von Jahren vergehen.
Das Individuum und das mit ihm verbundene Einzelschicksal spielt im Leben des Stammes schlicht keine Rolle, weil nur die Gemeinschaft der Einzelnen das Ganze bildet. Die simplen und gleichzeitig eindrucksvollen Szenen, die der Autor zwischen den Zeilen malt, evozieren eine bildhafte Zeitreise ins Neolithikum. Die einfachen Zelte, das Feuer, die vom Robbenfett als Kälteschutz glänzende Haut sowie die teils barbarisch anmutenden Riten beschreiben den täglichen Rhythmus der ewigen Eintönigkeit. Kommt ein Neugeborenes in einer mondlosen Nacht zur Welt, so wird es entweder sich selbst überlassen oder mit der Nabelschnur erdrosselt, um kein Unglück über den Stamm zu bringen und den grollenden Ayayema zu besänftigen.
„Seit fünftausend Jahren findet Lafko jeden Morgen ohne eine Hilfe aus dem Diesseits oder dem Jenseits den Mut zu leben. Er kennt kein anderes Schicksal nach dem täglichen Lauf der Sonne als eine neue, immer gleiche Nacht, die ihn erwartet, und doch gibt er nie auf. […] Fünftausend Jahre sind vergangen, und er hat nichts aus ihnen gemacht. Gott hat es so gewollt.“
Seit Anbeginn der Zeit bewegen sich die Kaweskars auf nahezu gleichem vorzivilisatorischen Niveau, das von Raspail eingehend beschrieben wird. So entwickeln sie keine Schrift, erfinden weder das Rad noch das Segel und geben ihre kümmerlichen kulturellen Traditionen ausschließlich mündlich weiter. Es gibt keine Worte für Glück oder Schönheit, denn solche Begrifflichkeiten liegen ihrer Lebenswelt und ihrem Denken so fern wie nichts anderes. Unter dem Patriarchat der Sippenältesten ziehen die Tage dahin, die sich in der immergleichen Abfolge vom Jagen, Fischen und Essen verlieren. Im abendlichen Widerschein des Feuers singen die Frauen das Lied von der Robbe oder dem Fischotter. Die Zeit steht seit tausend Jahren still.
Lafko rudert in seinem Einbaum mit den Seinen um die unwirtliche und von steilen Klippen geprägte Inselwelt und sucht gestrandete Wale und passende Lager- und Feuerstellen. So wäre es wohl bis auf alle Ewigkeit weitergegangen, segelte nicht eines Tages die Flotte Magellans an ihnen vorbei. Der erste Kontakt mit der europäischen Zivilisation in Form dieser riesenhaften Segelschiffe war für die Indianer im wahrsten Sinne des Wortes unvorstellbar. Er sprengte die ohnehin engen Grenzen ihrer Vorstellungskraft. Die Fremden, die Pektscheves , die für die Feuerlandindianer das Böse schlechthin verkörpern, waren zurückgekehrt. Diesmal für immer.
„Lafko ist erstarrt. Ein bisschen Blut tropft von seinem Schenkel. […] Er hat gesehen, wie der große runde schwarze Stein aufschlug. Wenn die Fremden fähig sind, so schwere Brocken so weit zu werfen, warum dann nicht er? […] Und wieder dröhnendes Gelächter. Die weißen Gesichter an Bord der großen Boote verzerren sich zu Fratzen.“
Die besondere Stärke und Einzigartigkeit des Romans sind die periodisch wiederkehrenden Perspektivwechsel, die Raspail in seine Erzählung eingebaut hat. Geht es einige Seiten um das einfache Leben der Sippe, so findet sich das geistige Auge wenige Augenblicke später im dunklen Schiffsrumpf von Darwins „Beagle“ wieder. Man begegnet dem Urzeitmenschen hier ebenso wie Persönlichkeiten wie Sir Francis Drake, Don Enrique, de Gamboa oder Martin Behaim, dem Erfinder des Globus.
Auf diese Art und Weise werden dem Leser Tore in beide Welten geöffnet: Neolithikum und Zivilisation. Es ist dies auch eine gekonnt inszenierte Konfrontation zweier Lebenswelten, die Gewissenskonflikte auslösen soll und viele wichtige und auch unangenehme Fragen aufwirft: Muss die Zivilisation zwangsläufig über die vermeintlich rückschrittlichen Völker obsiegen? Wem fühlen wir uns näher? Dem urzeitlichen, urtümlichen Stammesmenschen, den wir über weite Strecken der Geschichte kennen und schätzen gelernt haben, oder dem genuin europäischen Entdecker- und Erfindergeist, der erkünstelt und errechnet, erobert und unterwirft?
Die unausweichlichen Verheerungen, die der Zusammenprall zweier Welten mit sich bringt, werden bildreich beschrieben und geben einen Eindruck davon, wie jäh und hässlich das Verschwinden einer jahrtausendealten Kultur aussehen kann. Die Feuerlandindianer verlieren ihren Lebensmut, fangen an zu betteln und lassen sich zum großen Missfallen der Missionare nicht christianisieren. Sie sollen nun in Hütten leben, in denen sie sich niemals heimisch fühlen werden.
„Er legt einen Holzscheit nach dem anderen in den Ofen, und es ist zu heiß in seinem Haus. Eine feuchte, lähmende Wärme, die nicht die wilde Kraft des Feuers hat. Keine Flamme wirft ihren Schein auf die nackten Körper, denn es gibt kein sichtbares Feuer und alle sind angezogen. Vielleicht ist der Körper warm, aber nicht das Herz. Es fehlt jener tanzende rote Funke, der eine der Geheimnisse des Lebens war.“
Man macht sie lächerlich, stellt sie auf Kreuzfahrtschiffen bloß, steckt sie in Kleider, deren Sinn sie nicht verstehen und holt einige von ihnen zu guter Letzt nach Frankreich und England, wo ihr Geist verkümmert und sie mitunter als Zirkustiere und animalische „Menschenfresser“ ausgestellt werden.
Die moderne Welt verneint ihre Existenz, und damit geht die Geschichte zu Ende. Selbst im entlegensten Winkel der Erde war nun kein Platz mehr für sie, und wie hätten Lafko und die Seinen angesichts der technischen Überlegenheit der Eroberer auch Widerstand leisten sollen?
„Der Kapitän wird nie mehr vergessen können, dass er der eigentliche Urheber dieses Dramas ist. Warum hat er diese beiden Wilden nach England gebracht, Wozu dieser unnatürliche Ehrgeiz, sie zur Schau zu stellen? […] Hat Gott ihm das erlaubt?“
Literatur:
Jean Raspail: Sie waren die ersten – Tragödie und Ende der Feuerlandindianer, Langen Müller, Paris 1986