Im Rausch des Denkens (II): Godenholm

Zweite Szene: Godenholm 1949. Hier geht es zum ersten Teil.

Es hat ein wenig länger gedauert, als gedacht – die zeitlichen Umstände führten immer wieder zu Verschiebungen des geplanten Treffens. Doch nun, im Spätsommer 1949, ist es soweit. Man trifft sich erneut, dieses Mal im Beisein von Friedrich Georg Jünger. Ernst Jünger und Martin Heidegger treffen gerade mit dem Postschiff ein, Friedrich Georg Jünger ist bereits auf Godenholm. Godenholm ist eine Insel hoch im Norden, auf keiner Karte verzeichnet.

*

Heidegger: Was für eine Überfahrt! Endlich wieder festen Boden unter den Füßen… Mir ist noch immer nicht wohl… Kein Vergleich zu dem wilden Schneesturm, der mit seinen Stößen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt… Meine Todtnauberger Hütte schwankt selbst im stärksten Sturm nicht so wie dieses Schiff. Bin noch ganz benommen…

E. Jünger: Geht mir nicht anders. Indes, ich finde, daß man solche Stunden, ganz ähnlich wie durchfieberte Nächte nicht ohne Gewinn verbringt. Der Gedankenstoff, der in ihnen abgesponnen wird, ist bedeutend, auch nehmen die Dinge eine andere Färbung an. Apropos, Ihre Gesichtsfarbe wirkt immer noch etwas grünlich… Durch die Seekrankheit tritt man gewissermaßen experimentell in den Zustand des Leidens ein – – – Herr Heidegger?

Heidegger: Mir ist übel…

F. G. Jünger: Willkommen auf Godenholm! Schwarzenberg ist leider verhindert, doch er ließ einiges hier, um uns unseren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten. Für heute Abend bietet die Tafel neben einer kleinen Auswahl exquisiter Beeren auch erlesene Meeresfrüchte…

Heidegger:  … bitte nicht jetzt…

E.Jünger: Fritz, ihm ist nicht gut. Er braucht wohl noch ein wenig Zeit, um ins Dasein zurückzufinden. Sag, befindet sich unter den Dingen, die Schwarzenberg hiergelassen hat, auch ein Päckchen, aufgegeben in Basel? Albert Hofmann hatte mir zugesagt – – – Ah, da ist es ja! Vortrefflich, dem Experiment steht nichts mehr im Wege. 

F. G. Jünger: Beginnen wir mit einem kleinen Inselrundgang. Schwarzenberg ist dem Fortschritt nicht sonderlich zugetan, er bewirtschaftet sein Land nach traditioneller Methode. Alles was er zum Leben braucht, läßt er auf der Insel selbst herstellen. 

E. Jünger: Es bedarf schon ungeheurer Reichtümer, will man heutzutage Vergiftungen vermeiden.

F. G. Jünger: Mit der Margarine von Mège-Mouriès fing es an, 1869 war das… Der Fortschritt hat seither eine Unzahl von Surrogat-Stoffen, von synthetischen Verbindungen und künstlichen Produkten in die Ernährung eingeschoben. Hier findet ihr nichts davon. Keinen Kunstdünger, keine Konserven, keine neumodischen Kühlverfahren.

Heidegger: Interessant… Ob man diese Ernährungsweise eines Tages biologisch nennen wird?

F. G. Jünger: Nicht, wenn es nach Schwarzenberg geht. Der Fortschritt bringt eben auch diese Ernährungstheorien in Umlauf, die unter dem Kennzeichen der wissenschaftlichen oder biologischen Ernährung auftreten und Geltung beanspruchen. Die Biologie ist aber, wie schon ihre Terminologie und ihre Arbeitsmethoden lehren, ein Annex des technischen Fortschritts, sie ist eine seiner Disziplinen, die wie alle anderen dadurch gekennzeichnet sind, daß sie im Dienste einer mechanischen arbeitenden Kausalität und teleologischen Denkens steht.

Heidegger: Sie meinen also, daß inzwischen auch die Feldbestellung in das gleiche Be-stellen übergegangen ist, das die Luft auf Stickstoff, den Boden auf Kohle und Erz stellt, das Erz auf Uran, das Uran auf Atomenergie, diese auf bestellbare Zerstörung? Wohl wahr, Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben…

E. Jünger: Nichts anderes ist in den eisigen und glutheißen Gefilden der Werkstättenlandschaft zu erwarten. Alles geht nach dem Nutzen, nach dem zu erwartenden Gewinn, die Verzifferung ist der stete Begleiter des technischen Fortschritts. In seinem Gefolge dann die moralische Zweideutigkeit, die Indifferenz. Im Zuge nach Hamburg dachte ich beim Anblick des Schaffners: Heute locht er dir die Fahrkarte, morgen den Hinterkopf. Wie kann man dem entfliehen? Die Zeit der Robinsonaden ist vorbei.

F. G. Jünger: Mohnsaft, du stillst unseren Schmerz. Wer lehrt uns das Niedere vergessen? Schärfer als Feuer und Stahl kränkt uns das Niedere doch.

E. Jünger: Ja, die künstlichen Paradiese. Letzte Zuflucht zuweilen… Sie bilden einen Archipel für sich. Das Leben liegt im Tode wie eine kleine grüne Insel im dunklen Meer. Dies zu ergründen, und sei es auch nur an Säumen und Brandungsgürteln, heißt wahre Wissenschaft, der gegenüber alle Physik und Technik doch nur Lappalie bleibt. Herr Heidegger, sind Sie für unser kleines Experiment bereit? Wir werden versuchen, gemeinsam über die Linie zu gehen.

Heidegger: Nun, Ihren Forschungsdrang in allen Ehren, aber bevor wir trans lineam gehen, müßten wir doch erst einmal de linea reden. Was ist das für eine Linie, was trennt sie? Wie ich Sie kenne, wollen Sie darauf hinaus, daß wir den Nihilismus hinter uns haben, also uns bereits über die Linie bewegt haben. Mit Nietzsche bin ich freilich der Überzeugung, daß wir noch lange nicht trans lineam sind. Sie machen es sich zu einfach. Sie konservieren die Reste, versuchen, die alten Bestände, die noch nicht abgeräumt sind, zu retten und aufzupäppeln. 

E. Jünger: Sie halten mich für einen Konservativen, der das alles nicht wahrhaben will, der die Verluste nicht als endgültige realisiert? Der konservative Anspruch, sei es in der Kunst, in der Politik, in der Religion, stellt Wechsel auf nicht mehr vorhandene Guthaben aus. So sehe ich das. 

Heidegger: Sie überraschen mich. Gelten Sie nicht als einer der führenden Köpfe der Konservativen Revolution?

E. Jünger: Ich bin gewiss kein Liberaler – wenigstens nicht in dem Sinne, daß man sich dazu zusammentun und abstimmen muß. Die Freiheit trägt man in sich; ein guter Kopf verwirklicht sie in jedem Regime. Als solcher erkannt, kommt er überall voran, passiert jede Linie. Er geht nicht durch die Regimes, sie gehen durch ihn hindurch, hinterlassen kaum eine Spur. Er kann sie entbehren, sie ihn aber nicht, sind sie streng, so schärft das die Intelligenz. 

Heidegger: Freiheit… Führt sie heute nicht jedermann im Munde? Wird sie nicht zur Norm schlechthin und damit gegenstandslos?

E. Jünger: Geistige Freiheit ist nicht zu normieren; daher bleiben auch, wo es, wie im Fall der Preßfreiheit, versucht wird, die Grenzen umstritten und schattenhaft. Wie jede Freiheit erst sichtbar wird, wenn der Schutz aufhört, so beginnt geistige Freiheit dort, wo die Preßfreiheit endet – dann werden freilich sogleich im Blitzlicht Glanz und Elend der Freiheit offenbar. Der echte Konservative, um nun von ihm zu reden, will nicht diese oder jene Ordnung erhalten, sondern das Bild des Menschen wiederherstellen, der das Maß aller Dinge ist. Eben darum ist heute jeder konservative Anspruch fragwürdig.

F.G. Jünger: Konservativer Anspruch fragwürdig? Ernst, du hattest ja schon immer eine Sympathie fürs Revolutionäre…

E. Jünger: Bei wachsendem Tiefgang werden Konservative und Revolutionäre sich sehr ähnlich, weil sie sich notwendig demselben Grund nähern. Bei den ganz großen Veränderern, bei jenen, die Ordnungen nicht nur stürzen, sondern auch gründen, lassen sich daher stets beide Qualitäten wahrnehmen. Eine echte Tradition soll man übrigens nicht an Impotente vererben, die sich konservativ nennen, sondern sie mit ins Grab nehmen.

F. G. Jünger: Ins Grab? So weit ist es zum Glück noch nicht! Um den Schmerz zu stillen, um trans lineam zu gehen, um uns dem Ungesonderten zu nähern, um das Seyn selbst zu schauen, wollen wir uns heute nicht des Mohnsafts bedienen, sondern jener Substanz, die uns Freund Hofmann aus Basel sandte. Du kennst sie schon, nicht wahr, Ernst?

E. Jünger: Wahrhaftig! Ich hatte die Ehre, einer ihrer ersten Nutzer zu sein. Der erste Versuch führte über prachtvolle Vorhöfe nicht hinaus, doch der zweite… Es handelt sich um eine synthetische Droge, baugleich mit dem Alkaloid des Mutterkorns. Da wir in Sphären vorstoßen wollen, in denen Unterschiede zwischen „natürlich“ und „synthetisch“ keinerlei Rolle mehr spielen werden, liegt darin keine Minderung gegenüber dem edlen Mohnsaft. Sind wir bereit? Wenn die Droge zu wirken beginnt, werden wir noch Positionsmeldungen abzugeben in der Lage sein, später nicht mehr. – – – Ich grüße dich, du einzige Phiole!

F. G. Jünger: Nun lass mir doch diesen theatralischen  Goethe beiseite, Ernst! 

E. Jünger: Wohlauf! Nehmt an! Ha! Gleich wird mir wohler, die Flügel meines Geistes spannen sich weit, nun geht es eilends auf die Startrampe und – – – huiiiiiiii! 

Einige Stunden später…

F. G. Jünger: Als Dichter sollte ich jetzt zur Leier greifen, mir kommt ein Abschiedslied in den Sinn, ein Abschied an die Welt der Verzifferer, Zerstörer, Lügenbolde… 

Ihr, die ihr verehrt der Mandarinen 
Hohe Schreiberkaste
Und mit feierlich verdrossnen Mienen 
Hockt im Amtspalaste, 

Wisst, zuwider ist mir Ost und Westen, 
Nord und Süd geworden, 
Und ich bin der alten Vesten 
Satt und müd geworden.

Heidegger: Alles, was ich einst in „Sein und Zeit“ über die Ekstasis sagte, kommt mir im Moment so unwesentlich vor… Ich sinke hinab, nein, ich schwebe, ich rage hinaus, mich umfängt die Nacht des Seyns… Oh Heilige Pythia!

E. Jünger: Oh alter Götter Wohnsitz, sehe ich da den Fenris und die alte Schlange? Im Rausch, in der Ekstasis, treten archaische Züge hervor. Doch wir gehen nicht rückwärts – wir nähern uns an. 

F. G. Jünger:

Meine alte Haut hab ich zerrissen 
An den Stachelhecken, 
Meine alte Haut ist abgeschlissen 
An den Jahresecken. 

Heute streift’ ich an dem Dornenhange 
Meine Haut herunter. 
Klug geworden bin ich wie die Schlange,
Biegsam, boshaft, munter.

E. Jünger: Ich spüre das Weben, das Knistern stärker; es schwillt zum Brausen an. Mir ist, als müsse ich die Augen vom Licht abwenden, doch blendet es nicht. Es geht durch ein Versehrendes schnell hindurch, als ob sich Erde in Metallglut und diese zu reinem Glanze verwandelt. Wie damals in der Schilfhütte, an der Westfront 1940…

Heidegger:  Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen gehören, von sich her zueinander einig, aus der Einfalt des einigen Gevierts zusammen. Jedes der Vier spiegelt in seiner Weise das Wesen der übrigen Vier…

E. Jünger: Wo immer uns das Gefühl der Harmonie mit Macht ergreift, springen die Einzelheiten zauberhaft und gleich dem letzten Pinselstrich hinzu. So ist’s vor allem mit dem Augenblick des Glückes selbst. Die Dinge sind gestimmt, die Welt steht im Akkord. Nun hängt es von uns ab, ob wir das ‚Sesam’ sprechen wollen, das uns den Überfluß erschließt.

F. G. Jünger:

Keinem dienstbar roll’ ich dem Gange 
Hoher Mittagszeiten, 
Wiege mich im Tanz zu eignem Sange,
Froh, mich zu begleiten. 

Gleich der Natur ist des Lichtes Helle 
Mehr als Gold mir teuer. 
Mich belebt wie Durstige die Quelle 
Reines Himmelsfeuer.

Heidegger:  Licht, Helle, Feuer… Ich sehe… Das Spiegel-Spiel der weltenden Welt entringt als das Gering des Ringes die einzigen Vier in das eigene Fügsame, das Ringe ihres Wesens. Aus dem SpiegelSpiel des Gerings des Ringes ereignet sich das Dingen des Dinges…

E. Jünger: Wie meinen? Ach so… Der Zinkofen jedenfalls, den ich in der Schilfhütte brannte, war aus dürftigem Metall. Die Glut erhöhte seine Farbe in ein sehr schönes, transparentes Rot. Nach diesem Muster bergen die Dinge und birgt das Leben Eigenschaften, die uns im Alltag verschlossen bleiben, während der Übertritt auf andere Stufen, in andere Grade oder Zeiten sie offenbart. So hat das Leben seine Maien- und Blütenwunder, die der nicht ahnt, der nur das Blattwerk kennt. Auch kann die höhere Potenz in Gliedern, Teilen und Schichten sich entfalten – im Prachtgewand des Männchen bei den Vögeln und Insekten, im Busen des Weibes, der nach Novalis die in den Geheimnisstand erhöhte Brust verkörpert, im echten Adel, in dem ein Volk in edler Erscheinung leuchtet, und im Dichter, in dem die Sprache in ihre Blüte tritt. Es ruhen im Menschen auch Qualitäten, die erst der Tod entfalten wird. Dann findet die Verwandlung nicht mehr in Schichten, sondern in der Fülle statt. Ihr großen Abenteurer – dies wird euer letztes und größtes Abenteuer sein.

Heidegger: Unser letztes Abenteuer? Ich hoffe doch sehr, daß dem guten Jünger die Dosis nicht zu hoch geraten ist… Egal… Alles spiegelt sich in allem…

E. Jünger: Abenteuer, ja, auch des Eros… Das gewaltige Echo der Liebkosung – ein Zittern, das aus dem innersten Mark des Lebens antwortet. Wer ist die Frau, deren Bildnis dort drüben hängt? Schwarzenbergs Gespielin?

F. G. Jünger: Mag sein, ich sah sie bei meiner Ankunft hier… Doch es betrifft in der Tat unser Thema. Das Geschlecht ist nicht human, sondern divin. Nicht als ein vom Menschen Gemachtes und Verfertigtes ist es da… Aphrodite ist nicht die Göttin des Geschlechts, sondern die Göttin, die dem Spiel der Geschlechter vorsteht… Wie hält Freund Heidegger es eigentlich mit dem Eros?

Heidegger: Eros? Ich fühle mich im Augenblick der Eris näher, der Göttin des Widerstreits von Entbergung und Verbergung…

E. Jünger: Ist, wo Eros weilt, nicht oft auch die Eris nicht weit? Sie deuten Eris als Göttin des Widerstreits, aber sie ist auch die Göttin der Zwietracht, des Zanks. Denken Sie nur an den sprichwörtlichen Zankapfel, hat er nicht einen ganzen Krieg ausgelöst? Hätte Paris sich für Athene entschieden statt für Aphrodite, die Geschichte wäre anders verlaufen. Sollte daher wenigstens Ihr Widerstreit nicht besser von Pallas Athene behütet werden, Göttin des offenen Kampfes aber auch der Weisheit? Die Bilder werden stärker… Ich merke, die Substanz beginnt verstärkt zu wirken…

F. G. Jünger: Der Eros, die Liebe zum Leben, ist zu allen Zeiten die stärkste Macht gewesen. Auch heute kann nur der Eros die Verzifferung und die Zerstörung bekämpfen. Und nun zu euch, ihr Hohepriester des Niedrigen, die ihr niemals Zugang finden werdet zu unseren Gefilden:

Ich verlache eure Schliche, 
eure Tücken, Plumpe Schlangenfänger. 
Eure Weise kann mich nicht berücken, 
Dumpfe, dunkle Sänger.

Lass die abgegriffnen Leiern 
Selbst im Wind sich preisen. 
Besser ist, du fliehst die Feiern, 
Fliehst die hohen Weisen.

Heidegger: Fliehen?  Nein, verweilen… Das Ding verweilt das Geviert. das Ding dingt Welt. Jedes Ding verweilt das Geviert in ein je Weiliges von Einfalt der Welt…

E. Jünger: Was redet er da? Seltsamer Kauz… Im Interim sind Götter selbst in der Dichtung unzeitgemäß; am besten wird ihr Name neutralisiert. Dem entspricht, daß Göttliches, um in hoher Vergeistigung zu erscheinen, weder der Maske von Tieren noch Menschen bedarf. Freilich bedingen neue Mutationen auch einen neuen Erkenntnis-Stand. Daran wird es nicht mangeln, denn die Schere schneidet am schärfsten, wenn sie sich zu schließen beginnt. Doch davon wissen die Berühmtheiten unserer Tage nichts, wenn sie sich im trüben Glanz ihres ephemeren Ruhmes sonnen…

F. G. Jünger:

Ruhm nicht bringt es, 
eure Schlachten Mitzuschlagen. 
Eure Siege sind verächtlich  
Wie die Niederlagen!

E. Jünger: Ein trefflich Wort zur Rückkehr auf die Erde, Fritz! Klar zur Landung! Argonauten, auf zu neuen Abenteuern!

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