Radikale Kapitalismuskritik? Herbert Marcuse macht das mit links – der weltbekannte Soziologe der Frankfurter Schule kritisiert die fortgeschrittene Industriegesellschaft durch die neomarxistische Brille und wirkt dabei auch heute alles andere als altbacken. Gibt es zwischen den Zeilen realistische Interpretationsmöglichkeiten abseits der Utopie der „befreiten Gesellschaft“?
In seiner wahrscheinlich wichtigsten Publikation aus dem Jahre 1964 widmet sich der Autor, der gemeinhin als „Vater der Studentenbewegung“ gilt, dem gesellschaftlichen Leben in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft und verknüpft soziologische Beobachtungen mit neomarxistischer Liberalismuskritik. Seine Hauptthese: Die kapitalistische Wirtschaftsordnung und ihr Produktions- und Verteilungsapparat sowie die immanente Unterdrückung sind per se als irrational und daher verwerflich anzusehen, da sie die freie Entwicklung der Menschen und somit die Verwirklichung ihrer wahren Interessen unterbinden. Das menschliche Leben wird somit „eindimensional“, sprich vom System des Produzierens und Konsumierens materieller Güter vereinnahmt. Die „repressiven Bedürfnisse“ müssen im Interesse des glücklichen Individuums beseitigt werden, damit der Kampf um die Befreiung siegreich sein kann.
Vom nicht-utopischen, realistischen Standpunkt aus gesehen ist Marcuse der große Träumer der Frankfurter Schule, der, wie andere linke Geistesgrößen, noch immer vom imaginierten Leben im „ganz Anderen“ fasziniert ist:
„Wäre das Individuum nicht mehr gezwungen, sich auf dem Markt als freies ökonomisches Subjekt zu bewähren, so wäre das Verschwinden dieser Art von Freiheit eine der größten Errungenschaften der Zivilisation. Die technologischen Prozesse […] könnten individuelle Energie für ein noch unbekanntes Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit freigeben. Die innere Struktur des menschlichen Daseins würde geändert.“
Zentral ist für Marcuse das Festhalten an der marxschen These vom wahren und falschen Bewusstsein. Falsch sind hier diejenigen Bedürfnisse, die dem Individuum durch partikuläre gesellschaftliche Mächte auferlegt worden sind, die es unterdrücken und ausbeuten wollen. Bezog Marx diese noch auf das sich entwickelnde Proletariat als Träger der sozialistischen Revolution, so verabschiedet Marcuse sich angesichts der Gesellschaft der Bundesrepublik der 1960er Jahre vollends vom Wunschtraum der sich erhebenden Arbeiterklasse. Von fundamentaler Wichtigkeit jedoch ist ihm die „qualitative Änderung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse mit dem Ziel, die „Herrschaft von Menschen über Menschen“ abzuschaffen. Marcuse sieht die Gesellschaft von einer „Krankheit“ befallen und begibt sich so in die Position eines diagnostizierenden Arztes, der zeigen will, wie man diese Krankheit „heilen“ kann. Bei geschichtsinteressierten Lesern werden hier Erinnerungen an die Geisteshaltungen der totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts wach: Die Welt leidet an einer Krankheit, die geheilt werden muss, und um diese Heilung herbeizuführen, muss der Erreger, in diesem Fall der Kapitalismus und seine Handlanger, in einem clean sweep beseitigt werden. Die Chancen hierfür sind allerdings gering, weshalb Marcuses Analyse stets pessimistischer (und damit quasi-konservativer) Natur bleibt:
„Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, das Bewusstsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe die Änderung herbeiführen.“
Ferner legt Marcuse als Schüler Martin Heideggers großen Wert auf eine Kritik der Technik an sich, da diese in ihrer allumfassenden Rationalität auf andere Bereiche der Gesellschaft ausgreift und so die kapitalistischen Herrschaftsinteressen zementiert: „Technologische Rationalität ist zu politischer Rationalität geworden.“ Aufgrund der Tatsache, dass die Gesellschaft extrem leistungsfähig ist, ungeahnte Produktivität ermöglicht und tagtäglich steigert, wird eben dieser Gesellschaft das Prädikat „rational“ aufgedrückt, wodurch sie sich selbst „Absolution erteilt“, also affirmiert. Marcuse sieht hier eine geistige Gleichschaltung am Werk, die auf Dauer dazu führt, kritische Ideen an sich undenkbar zu machen und somit jedwede Form politischer Opposition entweder von vornherein auszuschalten oder aber ins (irrationale) System zu integrieren. Besonders heimtückisch, weil den Klassenkampf verunmöglichend, agiere das System bei der „Ausgleichung der Klassenunterschiede“, welche wie folgt bilderreich analysiert wird:
„Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte besuchen, wenn die Stenotypistin ebenso attraktiv hergerichtet ist wie die Tochter ihres Arbeitgebers, wenn der Neger einen Cadillac besitzt, wenn sie alle dieselbe Zeitung lesen, dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern auf das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen.“
Hier tritt ein identitäres Moment in Marcuses Denken deutlich zutage: Die Arbeiterklasse (zu der bei ihm auch die Angestellten zählen), die geschützt und verteidigt werden soll, verliert durch die sukzessive Einbeziehung in die kapitalistische Warenvielfalt und damit verbundene Konsumräusche ihre althergebrachte, gewachsene Identität. Ist diese Gruppen- bzw. Klassenidentität erst einmal über Jahrzehnte abgebaut, so scheint es schier unmöglich, die revolutionären Energien für den qualitativen Umschlag zu bündeln. Die Flamme der Revolution ist erloschen, weil der Hoffnungsträger mit Hilfe von Brot und Spielen verführt wurde.
Wie andere Vertreter der Frankfurter Schule nimmt Marcuse den Menschen primär als von ökonomischen Bedürfnissen geleitetes Wesen wahr, was jedoch nicht bedeutet, dass die Kultur bzw. die Kritik an ihr keine nennenswerte Rolle spielt (siehe hierzu z.B. Adornos Kritik an der Kulturindustrie). Es ist dies eine Sichtweise, die er mit den meisten liberalen Denkern teilt. Darüber hinaus spielt für ihn jedoch auch die Lehre Freuds eine hervorstechende Rolle, die innerhalb der Frankfurter Schule vor allem bei Marcuse und dem bekannten Psychoanalytiker Wilhelm Reich eine Symbiose mit marxistischen Traditionen eingeht (Freudomarxismus). Libido und Lustprinzip werden auch beim „eindimensionalen Menschen“ ins Gesamtbild einbezogen.
Beim Lesen hat man keinesfalls den Eindruck, ein Werk in den Händen zu halten, das vor inzwischen mehr als 50 Jahren geschrieben wurde, da viele der beschriebenen Mechanismen und Machttechniken sich fast mühelos auf die heutige gesellschaftliche Realität übertragen lassen. Schwirrten nicht ständig bedeutungsschwangere Worte wie „Befreiung“, „Knechtschaft“ , „Entfremdung“ und „Verweigerung“ durch die Zeilen, könnte man den Autor streckenweise für einen veritablen Kulturkritiker halten, der die (heutzutage) omnipräsente Selbstzensur, die Einseitigkeit des Denkens sowie die im Keim erstickte Opposition als Grundprobleme anerkennt und dem Leser „seinen“ Verblendungszusammenhang deutlich machen will. Auch die Sprache bzw. die Wichtigkeit der Semantik innerhalb der gesellschaftspolitischen Arena wird zum Thema gemacht:
„Relativ neu ist, dass die öffentliche und private Meinung diese Lügen allgemein akzeptiert und ihren ungeheuerlichen Inhalt vertuscht. Verbreitung und Wirksamkeit dieser Sprache bezeugen den Triumph der Gesellschaft über die Widersprüche, die sie enthält; sie werden reproduziert, ohne das soziale System zu sprengen.“
Der geneigte Leser kann anhand obiger Passagen unschwer erkennen, dass Marcuse hier ein wahres Arsenal an Ideen und Anregungen bereitstellt, das abseits konservativer Denkgewohnheiten steht und trotz oder gerade deswegen den Blick für Problematiken innerhalb der Massen- und Konsumgesellschaft schärft. Der oberlehrerhafte Duktus, der hier qua Selbstverständnis an den Tag gelegt wird, stört bei der Lektüre keineswegs und ist bisweilen sogar unterhaltsam, wenn man die gebräuchlichen Denkfiguren neomarxistischer Provenienz nicht zu ernst nimmt. Marcuses „eindimensionaler Mensch“ ist heute möglicherweise noch eindimensionaler, flacher und daher formbarer als er sich das damals hat vorstellen können, wenn man sich die gesellschaftspolitischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte vor Augen führt. Die Alternativen zum Kapitalismus sind nicht erst seit dem Mauerfall vollends diskreditiert, die Freiheit des Geistes und der Rede stehen vielleicht wie nie zuvor auf dem Schafott und die Verbildung ganzer Bevölkerungsschichten steht einer wie auch immer gearteten qualitativen Änderung im Weg. Erstaunlicherweise gilt jedoch festzuhalten: Beim metapolitischen Rückschlag gegen den drohenden gesellschaftlichen Zerfall ist auch der „eindimensionale Mensch“ ein zwar unkonventioneller, aber doch provozierender Begleiter, der Wege abseits konservativ-kulturkritischen Denkens aufzeigen kann.
Literatur:
Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 1964.
Titelbild: