Zur Ideengeschichte – Die Heilslehre des Marxismus

Ein Kernpunkt konservativer Denker ist, dass es weder eine allumfassende Wahrheit gibt, noch eine universale Lösung für alle irdischen Probleme und Konflikte. Damit stehen sie in dem Gegensatz zur marxistischen Lehre, die für sich beansprucht, das Ende der Geschichte zu verkörpern und diejenigen Entwicklungen ausfindig gemacht zu haben, die für ökonomische, soziale und historische Unterschiede verantwortlich sind.

Die Moderne hat durch Humanismus, Säkularisierung und Verwissenschaftlichung aller irdischen Sphären die Welt vollends entschlüsselt. Durchsichtig und berechenbar wird der neue Mensch angesichts der modernen Wissenschaft: jegliches Handeln wird erklärbar und der Mensch in jeder Lebenslage analysier- und berechenbar. Durch die Entschlüsselung dieser Prozesse verspricht die Wissenschaft zugleich Zukunftshoffnungen und Glückserwartungen, denn irdische Probleme werden erkennbar und folglich auch lösbar. Dabei wird der Wissenschaft eine unantastbare Autorität zugesprochen.

Eine Ideologie, die diese Aspekte vollständig integriert hat, ist der Marxismus. Dabei beansprucht er für sich, die Religion hinter sich gelassen zu haben und allein auf wissenschaftlichen Erkenntnissen zu basieren. Spannend wird es, wenn man dem messianischen Charakter, der Heilslehre des Marxismus, einmal nachgeht und fragt, wie Heils- und Diesseitsverheißungen auf Grundlage dieses Wissenschaftverständnisses legitimiert werden. Dann wird schnell offensichtlich, dass auch dem Marxismus ein religiöses Moment im christlich-jüdischen Sinne innewohnt.

Geschichtsprophetie als imginärer Zustand

Eine Grundüberzeugung, die alle Marxisten teil(t)en, ist, dass die proletarische Weltrevolution bevorsteht. Durch diese wird ein völlig neuartiger Weltzustand eingeläutet werden: Die nations- und klassenlose Gesellschaft wird dem Individuum unendliche Freiheiten gewährleisten, alle Widersprüche auflösen und somit in die Epoche des Kommunismus einführen. Daraus folgt, dass der Marxismus eine Untergangsprophetie und eine Vorhersage zugleich ist. Untergangsprophetie deshalb, weil er mit bestimmter Sicherheit den Zusammenbruch der zu jenem Zeitpunkt vorherrschenden Produktionsverhältnisse und der gesellschaftlichen Form, des Kapitalismus, proklamiert. Der Auflösungsprozess ist somit eine historische Notwendigkeit und die proletarische Revolution ein vorbestimmtes Ereignis der Geschichte.

Hervorzuheben ist hier die Zwangsläufigkeit, mit der dieser Untergang vorhergesagt wird. Niemand kann sich diesem Schicksal der Weltgemeinschaft entziehen, denn der Untergang folgt dem Rad der Geschichte und macht zugleich den Sieg des Proletariats unvermeidlich. Die Geschichte folgt nach Karl Marx nämlich einem logischen Plan, der zu einem bestimmten Ziel führt. Man vertraut mit einem unantastbaren Optimismus auf das Voranschreiten der Geschichte.

Diese historische Vision macht den Kern der marxistischen Lehre aus. Diese Interpretation des Marxismus stellt allerdings einen Idealtypus dar und wird heute nur noch von wenigen orthodoxen Marxisten, die geschichtsdeterministisch denken, vertreten, welche heute jedoch nur noch die Minderheit innerhalb des linken Spektrums darstellen. Spätestens seit der Frankfurter Schule werden durch Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse etc. (westliche) Kultur und gesellschaftliche Strukturen für das Scheitern der Weltrevolution verantwortlich gemacht. Damit erfuhr die moderne,marxistische Lehre einen entscheidenden Wandel. Die Grundüberzeugung, dass der Kommunismus ein notwendiges Endstadium der Geschichte bildet, bleibt aber auch innerhalb der neueren Linken bestehen. Allerdings wurden neue Methoden und Taktiken entwickelt, die dieses Ziel herbeiführen sollen. Der Kern der marxistischen Lehre bleibt mehr oder weniger unangetastet bestehen.

Nach dem Untergang des Kapitalismus folgt im nächsten Schritt die Etablierung eines neuen Weltzustands. Aus dieser Notwendigkeit des Untergangs lässt sich schlussfolgern, dass, wenn diese Prophetie nicht eintritt, die marxsche Lehre hinfällig ist, denn nur auf dieser Grundlage kann die proletarische Revolution zur Abschaffung aller Klassengegensätze eingeläutet werden. Das heißt, die Geschichte schafft die Klassen ab und führt zum Kommunismus, bedingt durch Gesetzmäßigkeiten, die quasi transzendental über dem politischen Handeln stehen. Zentral in der Idee des Kommunismus ist also der Mythos der Endkatastrophe, dem Zusammenbruch des Kapitalismus und das Errichten eines neuen und zugleich letzten, endgültigen und ewigen Zeitalters. Auffallend hierbei ist, dass es sich um eine innerweltliche Erlösungstheorie handelt, die alle Probleme, die das Individuum und die Gesellschaft betreffen, abschaffen wird. Es handelt sich deshalb um eine Erlösungstheorie, da das Übel, welches für alle Ungleichheiten verantwortlich ist, für immer auslöscht ist und somit die Menschheit in einen paradiesischen Urzustand zurückversetzt wird. Marx deklariert einen imaginären, zukünftigen Weltzustand und legitimiert ihn nachträglich durch seine materialistische Geschichtsinterpretation und durch die Methoden der modernen Wissenschaft, um die Autorität dieser Geschichtsinterpretation zu stärken. Für den religiösen Charakter ist entscheidend, dass diese Prophetie eine heilige Wirklichkeit im Sinne einer übergeordneten Strukturform kreiert, die niemals untergehen kann und alle weltlichen Gesetze bedingt. Diese Strukturform ist das historische Rad, welchem sich jeder Mensch ausgesetzt sieht; es agiert als impersonale Macht und ist somit ein Charakterzug, den wir mindestens in den monotheistischen Religionen wiederfinden können.

Das Ziel des Kommunismus ist nicht aus der Analyse abgeleitet, sondern aus philosophischen und eschatologischen Argumenten über die Natur des Menschen. Warum es sich hier um einen säkularisierten Messianismus handelt, verdeutlicht Jacob Talmon mit dem Einwand:

„Welche Garantie gibt es dafür, dass die kommende proletarische-kommunistische Revolution endlich den echten, den wirklichen Menschen auf den Thron heben wird?“

Die marxistische Vision basiert im Kern darauf, dass mit der Aufhebung aller Formen der Selbstentfremdung und Unterdrückung, das wahre Wesen des Menschen zum Vorschein kommen wird. Dieser Mensch kann jedoch nur imaginär und abstrakt sein, denn die Geschichte basiert nach Marx eben von Anfang an auf diesen Unterdrückungmechanismen. Es ist völlig ungewiss, ob es diesen Menschentypus überhaupt geben kann, folglich ist auch die historische Vision eine imaginäre und steht auf tönernen Füßen. Marx verläuft sich in bodenlosem Messianismus, die Realität wird zugunsten seiner Prophetie gekonnt und höchst eloquent umgedeutet.

Da der Kommunismus für sich jedoch beansprucht, die Verkörperung der Geschichte darzustellen, versteht er sich ebenfalls seinen politischen Gegnern moralisch und argumentativ überlegen, denn das politische System wird zum Ort der Selbstauflösung werden.

Historischer Materialismus als wissenschaftliche Legitimation

Der Historische Materialismus verbindet ein bestimmtes Gesellschafts- und Geschichtsbild mit der Wissenschaft als Erkenntnistheorie. Dies wird besonders in der Analyse des Kapitalismus deutlich. Charakteristisch für Marxens Geschichtsauffassung ist jedoch, dass alle historischen Entwicklungen auf bestimmte Faktoren zurückzuführen sind, nämlich die konkrete Materie und die Produktionsverhältnisse. Es handelt sich also um eine rein irdische Anschauung, die keine Wirklichkeiten außerhalb der konkreten bzw. materiellen Welt kennt. Das göttliche Element ist nicht vorhanden und Gott, im christlichen Sinne als Schöpfer und Richter, wird nachhaltig verneint. Der Materialismus äußert sich bei Marx dahingehend, dass das menschliche Bewusstsein ein Produkt seiner Umgebung ist, welche wiederum durch die Materie bzw. Materialität und die „Verhältnisse“ an sich bestimmt wird. Besonders deutlich wird dieses materielle Geschichtsverständnis in der Aussage „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen“, das Kapital agiert dabei als bestimmende gesellschaftliche Macht und bestimmt jegliches menschliche Handeln und Denken. Geschichtliche Wirklichkeiten stehen folglich immer in einem Bezug zu den Produktionsverhältnissen, und diese sind ebenfalls verantwortlich für die Unterschiede zwischen den Menschen. In dem Kapitalismus, wie er durch die Industrialisierung erstmals artikuliert wurde, spitzt sich diese Ausbeutung zu und wird von einer verhüllten zu einer offenen. Dadurch, dass Marx für sich beansprucht, den Motor der Geschichte entschlüsselt und die Ursache für Unterdrückung und Ungleichheit ausfindig gemacht zu haben, lassen sich die konkreten sozialen Realitäten erkennen und verändern. Dieses Erkennen der Wirklichkeit gründet auf der wissenschaftlich-empirischen Methode, welche es gleichzeitig ermöglicht, diese Verhältnisse zu beeinflussen bzw. abzuschaffen.

Der Zweck der theoretischen Arbeiten Karl Marxens ist somit auch, ein Selbstbewusstsein für das Proletariat in seiner historischen Rolle zu schaffen und zu stärken. Dabei beansprucht der Marxismus gleichzeitig für sich, das Ziel und den Weg der gesamten Menschheit zu kennen. Hier wird erneut das oben dargestellte lineare Geschichtsverständnis deutlich. Dabei bereitet der Historische Materialismus die gedanklichen Schritte vor, die notwendig sind und in der proletarischen Revolution münden: Die Praxis ist aus der Theorie ableitbar. An dieser Stelle sind einige grundlegende Aspekte erkennbar, welche für die Analyse des Marxismus hinsichtlich seines religiösen Charakters ausschlaggebend sind – der Messianismus wurde bereits erwähnt.

Zum einen die Verwissenschaftlichung des Geschichtsbildes mit einer ganz bestimmten Intention, nämlich den proklamierten Endzustand der Geschichte zu erreichen. Das Menschenbild des Marxismus ist ein festgelegtes, das keine anderen Einwirkungen und Interpretationen zulässt und somit für sich beansprucht. Nichts wirkt neben der Materie, und diese Deutung versteht sich als absolute Wahrheit. Hier lassen sich Parallelen zu theologischen Verständnissen feststellen, die innerweltliches Handeln und Wirken auf einen einzigen Faktor zurückführen und diesen Faktor eben als absolute Wahrheit anerkennen. Der Marxismus untermauert „Wahrheit“ auf Grundlage der wissenschaftlichen Analyse und dem Vertrauen auf das Rationale. Zum anderen setzt der Marxismus voraus, dass es ein universales Band gäbe, das alle Menschen eint. Dieses universale Band bedingt eben auch, dass es nur eine Menschheitsgeschichte gibt und keiner sich diesem historischen Prozess entziehen kann. Das Rad der Geschichte schreitet unaufhaltsam voran und integriert alle Faktoren, wobei der Zukunft Vorrang über die Vergangenheit gegeben wird. Im Lichte der goldenen Zukunft erscheint die graue Vergangenheit und mit ihr auch die vorangegangenen Geschlechter als minderwertig. Es besteht keine Möglichkeit, sich diesem Prozess zu entziehen, das heißt, die Historie wirkt an sich und ist folglich ein mechanisches System, in dem der Mensch gesetzt und nicht variabel ist. Hier wird der Kernpunkt deutlich, der die Totalität des marxistischen Denkens ausmacht. Was für das Christentum das Jüngste Gericht ist, ist für den Marxismus das Ende der Geschichte als irdisches Paradies.

Zwei Kernpunkte machen dabei den religiösen Charakter des Marxismus aus. Erstens die Prophezeiung eines Endzustands der Geschichte und zweitens der Historische Materialismus, der ein von den Menschen unabhängig agierendes System darstellt.

Die Prophezeiung eines Endzustands der Geschichte, der an die Aufklärung und schließlich an Hegel anknüpft, geht der marxistischen Gesellschaftsanalyse voraus. Marx imaginiert ein Menschheitsbild und daraus schlussfolgernd eine historische Vision ohne jegliche Überprüfbarkeit. Hier tritt der Messianismus, wie man ihn aus der christlich-jüdischen Tradition kennt, deutlich hervor. Ausgehend von dieser Vision bedient sich Marx der Wissenschaft zur Legitimation seiner Theorie, um ein Selbstbewusstsein für die proletarische Revolution zu schaffen.

Der sogenannte Historische Materialismus setzt das Individuum dabei in einen von der Menschheit unabhängigen Prozess, welcher eine unantastbare Autorität genießt und somit als heilige Wirklichkeit verstanden werden kann, wie sie in jedem religiösen Gebilde auftritt. In diesem System, von übergeordneten Gesetzmäßigkeiten bestimmt, ist der Mensch dem Gebilde passiv ausgeliefert, ein vorherbestimmtes Schicksal erwartet ihn. Diese Gesetze sind für alle Menschen gleich gültig und somit total, es stellt folglich den Universalismus in seiner radikalsten Spielart dar. Die einzige Macht, die wirkt, ist die Geschichte, wie sie in diesem Gedankengebäude festgelegt ist. Durch den unbedingten Willen, diesen Endzustand auf rationaler Basis einzuführen, wird die Wissenschaft, bei Marx durch den Historischen Materialismus, in die Lehre integriert undsomit Teil des religiösen Systems des Marxismus. Die Wissenschaft dient ferner zur Legitimation, da ihr durch den Rationalisierungsprozess der Aufklärung eine Unfehlbarkeit zugesprochenen wird und man folglich auf diesen Prozess vertraut.

Die Zwangsläufigkeit, mit der diese Prophetie eintreffen muss und in welcher das politische System als Verwirklichungsmotor dient, birgt allein in dem Gedankenkonstrukt enorm große Gefahren für diejenigen, die sich diesem Prozess widersetzen wollen. Freilich lassen sich diese Charakteristika auch in den anderen modernen Ideologien wie dem Nationalsozialismus oder dem Liberalismus wiederfinden, wenn auch nicht so offensichtlich wie im Marxismus.

Weiterführend

Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 22,2 1996, S. 165-193.

Ernst Nolte, Geschichtsdenken im 20. Jahrhundert, Berlin 1991.

Karl Marx/Freidrich Engels, Das Kommunistische Manifest. Eine moderne Edition, Hamburg 1999.

Jacub Talmon, Politischer Messianismus, Köln 1963.

 

Weitere Beiträge