An einem sonnigen Samstagvormittag treffen ein Anarch und ein Konservativer in einem Pariser Café zusammen. Vor den Fenstern des Lokals spielen sich wilde Szenen ab. Demonstranten duellieren sich mit einem Großaufgebot der Polizei. Wasserwerfer, Rauchgranten und Schlagstöcke auf der einen Seite, brennende Mülltonnen, Bengalos und Parolen auf der anderen Seite. Ein zivilisatorisches Schauspiel der besonderen Art.
Durch die Glasfront des Cafés kann man die Szenen wie durch ein Schaufenster beobachten. Doch wer sind die zur Schau gestellten, die Diskutanten oder die Demonstranten? Angeregt durch die angeheizten Massen, die ihr Recht auf Partizipation am Staat einfordern und den ungleich gewaltsam reagierenden Polizisten, umkreisen die beiden die Frage, ob der moderne Staat als Teil des Problems oder als Möglichkeit zur Überwindung des Nihilismus begriffen werden sollte. Gemeinschaft oder Gesellschaft, das Kollektiv oder der Einzelne – was zählt?
Anarch: Der konservative Anspruch auf den Staat ist Betrug! Der Konservative klammert sich an eine Fassade, an Sachwalter und Institutionen eines abstrakten Systems, dessen Sinn vollständig entleert ist. Er unterwirft sich den Machenschaften des Staates und ist somit nur Teil des großen, nihilistischen Spiels.
Konservativer: Dass jemand, der sich selbstbezeichnend Anarch nennt, kein Verständnis für den Staat und seine innere Funktion hat, überrascht mich natürlich nicht. Folglich muss ich Ihnen widersprechen und vermute, dass Ihr Fehlschluss auf ein positives und zugleich konstruiertes Menschenbild zurückzuführen ist. Vielmehr verhält es sich doch so, dass der Staat eines der letzten funktionierenden Ordnungssysteme darstellt, das in der Lage ist, die mobilisierten Individuen der Moderne zu ordnen und ihnen einen Sinn zu geben, sich umeinander zu kümmern. In welchem Chaos würde wir leben, ohne den Staat?
Anarch: Rein rational liegen mir Ihre Überlegungen freilich nicht fern, denn mit Sicherheit glaube ich nicht an eine herrschaftsfreie Welt. Doch bei Ihnen taucht er wieder auf, der unzerstörbare Mythos des Leviathans, der das Leben der Menschen ordnen und mit Sinn füllen soll. Durch diese Überlegung sind sie einem konstruierten Menschenbild viel näher als ich. Ich könnte Ihren Hobbes’schen Leviathan mit dem Konzept des edlen Wilden von Rousseau austauschen und Sie würden den Unterschied gar nicht bemerken. Beide Konzepte rühren unmittelbar aus dem Wesen des Nihilismus.
Konservativer: Ganz recht, der Nihilismus scheint unser bestimmendes Thema zu sein, das hinter jeder Theorie und Überlegung lauert. Doch gerade in Zeiten einer ausgebreiteten Zone des Nihilismus ist doch der Staat wichtiger denn je. Das neuzeitliche Individuum steht vor der Bedeutungslosigkeit, ohne es zu überhaupt zu erahnen, denn sobald die Möglichkeiten des Konsums und der Zerstreuung wegfallen, ist der Einzelne mit dem großen Nichts und seiner sinnentleerten Existenz konfrontiert. Stellen Sie sich nur das Chaos ohne die ordnende Kraft des Staates vor, der die Gemeinschaft zusammenhält!
Anarch: Sie argumentieren gegen sich selbst. Wie es mir scheint, so wollen Sie nicht den Nihilismus überwinden, sondern lediglich eine be-schleunigte Welt etwas ent-schleunigen und dazu den Staat zur Hilfe nehmen. In der Tat ist es so, dass der Nihilismus den großen Sinnzusammenhang, der eine Gemeinschaft bildet und zusammenhält, zugunsten eines mobilisierten Individuums aufgelöst hat. Ihre Konstruktion des Staates ändert an diesem Prozess nichts, sondern verlangsamt ihn höchstens. Die Grundentwicklung des Nihilismus ist doch die, dass der Einzelne vor der Bedeutungslosigkeit steht, sobald die äußeren Konstruktionen um ihn herum zusammenbrechen. Dazu gehört auch Ihr Konzept des Staates, der als Sachwalter dem Nihilismus dient und den Menschen die Illusion gibt, sich in einem intakten Ganzen zu befinden.
Konservativer: Um einen Vergleich zu wagen: Früher war der Mensch alleine nicht lebensfähig. Das Zusammenleben gestaltete sich nicht in Form einer Gesellschaft, sondern einer Gemeinschaft, die nicht einmal theoretisch zu zerlegen gewesen wäre. Die Einzelnen waren existenziell aufeinander angewiesen, um lebensfähig zu sein. Klar ist uns beiden, dass die seinsgeschichtliche Entwicklung in der wir uns befinden dazu beigetragen hat, diese Gemeinschaft aufzulösen. Dennoch bleibt der Drang, eine Gemeinschaft zu bilden eine Grundkonstante des menschlichen Lebens. Der Staat kann als zivilisatorische Form verstanden werden, die in der Lage ist, die aufgelöste Gemeinschaft zusammenzuhalten und dem Einzelnen eine Lebensbedeutung zuzuweisen. Der Staat ermöglicht uns Ordnung in einer sich in der Auflösung befindenden Welt.
Inzwischen hat sich erwiesen, daß der Nihilismus mit ausgedehnten Ordnungssystemen wohl harmonieren kann, ja daß, wo er aktiv wird und Macht entfaltet, sogar die Regel ist. Die Ordnung ist für ihn ein günstiges Substrat; er bildet es zu seinen Zielen um. Vorausgesetzt wird lediglich, daß die Ordnung abstrakt sei und also geistig – hierher gehört in erster Linie der durchgebildete Staat mit einem Beamten und Apparaturen, und das vor allem zu einem Zeitpunkt, an dem die tragenden Ideen mit ihrem Nomos und Ethos verloren gegangen oder in Verfall geraten sind, obwohl sie vielleicht im Vordergrunde in erhöhter Sichtbarkeit fortleben.“
Ernst Jünger, Über die Linie
Anarch: Obwohl Sie über die Gemeinschaft sprechen, bleibt dieser Begriff doch leer. Denn wie sie richtigerweise sagten, war der Einzelne früher nicht lebensfähig, heute ist er es aber und der Staat hält diese Entwicklung zusammen. Denn auch er kann sich dem Nihilismus nicht entziehen, es handelt sich nämlich nicht um eine beliebige Meinung von Einzelnen, sondern um ein Seinsgeschehen, das sich auf der Sinnebene vollzieht. Indem Sie auf ein beliebiges Angebot aus dem großen Angebot der Sinnstiftung zurückgreifen, bedienen Sie sich einer Prothese zur Aufrechterhaltung einer Illusion. In einer nicht-nihilistischen Ordnung wäre der Sinn der Gemeinschaft nicht hinterfragbar und somit auch nicht konstruierbar. Wenn Sie sich beispielsweise als preußischen Sozialisten bezeichnen, bauen Sie eine Scheinwelt auf, die innerlich tot ist. Der Konservative hat nicht den Mumm, dem Abgrund ins Gesicht zu schauen!
Konservativer: Sie wollen also zu einer archaischen, ursprünglichen Lebenswelt zurückkehren. Dieser Ansatz scheint mir dem Reich der Fantasie entflohen zu sein. Der Mythos und die großen Erzählungen sind gestorben, mit ihr auch die unhintergehbare Ordnung, die im Kern unauflöslich ist und beispielsweise durch ein Gottesgnadentum verkörpert werden kann. Meine Idee des Staates schließt aber unmittelbar hier an und bewahrt die letzten Bestände, die von Nomos und Ethos übriggeblieben sind. Gesamtgesellschaftlich können Sie den Nihilismus niemals überwinden, Sie müssen als einsamer Waldgänger enden, der zwar seine eigene, sinnerfüllte Ordnung lebt, die Gemeinschaft aber aufgegeben hat. Das kann ich nicht, dafür fühle ich eine zu große Verbundenheit mit meinem Volk, der Geschichte und der Ordnung an sich.
Anarch: Ungewollt haben Sie hier den Kern des Wesens des Nihilismus hervorgehoben. Das Endstadium des Nihilismus zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass das große Ganze nicht angreifbar ist, sondern immer nur Teilstücke berührt werden können. Ganz richtig geht diese Entwicklung auch auf den Verlust einer Sinnstiftung zurück. Sie befinden sich jedoch ebenso im System des Nihilismus gefangen wie ich, denn Ihr Festhalten an dem Staat ist eine nihilistische Spielart, die gleichzeitig das System verhärtet. Sie helfen dabei die metaphysische Macht des „stahlharten Gehäuses“ auszubauen. Was wir notwendigerweise tun sollten, ist einen Ansatz zu denken, von dem aus ein neuer, innerer Kern der Gemeinschaft erwachsen kann.
Konservativer: Abermals überschätzen Sie hier die Stellung des Einzelnen. Wir haben uns zusammengefunden, um über den Nihilismus zu sprechen, dieses Gespräch setzt allerdings die Kenntnis und Wahrnehmung des Nihilismus voraus. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit die bisher unberührten Personen mit ihrem eigenen Nichts zu konfrontieren und dadurch einen Bewusstseinswandel herbeizuführen? Und falls ja, was folgt daraus?