Georges Bataille, ein heute ebenso vergessener wie verstörender Denker, hat sich mit Dingen beschäftigt, um die anständige Leute einen weiten Bogen machen: Gewalt, Eros, Trauma und Tod. Besonders für letzteres hat er eine für manche geradezu krankhafte Leidenschaft an den Tag gelegt. Ein Porträt.
Bataille wollte den Extremen auf den Grund gehen, ihren philosophischen wie psychologischen Gehalt aufdecken und sie in die Mystik integrieren. Er war ein Entdecker von Dingen, die man lieber im Dunkeln lässt, von Neuland, das nur besonders Verwegene betreten sollten. Sein Denkweg gleicht einer Safari ohne schützenden Jeep. Georges Bataille trieb sein Denken bis an den Rand des Möglichen, und das hieß für ihn: kurz bevor der Verstand im Moment des Todes verlöscht. Seine Leitfragen waren die folgenden: Was haben Ekstase und Tod gemeinsam? Hat eine traumatische Erfahrung auch einen mystischen „Mehrwert“? Was geschieht im Menschen, wenn er Grenzen überschreitet?
„Ich lehre die Kunst, Angst in Wonne zu verwandeln“, so äußerte sich Georges Bataille (1897-1962) einmal mit einem Schuss Selbstironie über sein Selbstverständnis als Philosoph.
Sein Leben verlief im Gegensatz hierzu überraschend eintönig. Er arbeitete zeitlebens als Bibliothekar, zuletzt an der Nationalbibliothek in Paris, wo er u.a. den aus Nazi-Deutschland geflohenen Walter Benjamin als Benutzer empfing.
Geboren in der Auvergne 1897 kommt er bald in die Hauptstadt, wo er in den 20iger Jahren mit fast allen namhaften Intellektuellen der Zeit bekannt wird, so mit dem Oberhaupt der Surrealisten André Breton, später mit Jean Paul Sartre, der in einer Rezension Batailles Buch „Die innere Erfahrung“ von 1943 gnadenlos verreißen wird, mit Michel Leiris, Antonin Artaud und mit Simone Weil. Im Lauf seines unauffälligen Lebens wird entweder er die meisten von ihnen wieder verlassen oder sie distanzieren sich von ihm. Beeinflusst wird er wie die gesamte Garde der französischen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Hegel-Vorlesungen des emigrierten Russen Alexandre Kojève, sowie durch den ebenfalls vor dem Kommunismus geflohenen ukrainischen Juden Leo Schestow. Letzterer wird ihm eine lebenslange Abneigung gegenüber jedem Idealismus einimpfen.
Es wäre aber zu kurz gegriffen, würde man es bei diesen dürren Fakten belassen, denn der Denker des Traumas hat selbst drei einschneidende, traumatische Erlebnisse gehabt, die sein Denken in eine bestimmte Richtung getrieben haben. Während des Ersten Weltkrieges, Bataille wird nur kurz zum Militär eingezogen, lassen er und seine Mutter im Chaos der Belagerung von Reims den behinderten und blinden Vater allein im Haus zurück. Dies führt zu einer kurzen, aber intensiven religiösen Phase im Leben des jungen Bataille. Er wird fromm, ja devot und trägt sich sogar mit dem Gedanken, Priester oder Mönch zu werden. Diese Zeit einer selbst auferlegten Askese endet um 1924, als er in Paris ins andere Extrem fällt. Er wird zum regelmäßigen Besucher von Spielhöllen und Bordellen. Später, wenn er sich nicht ohne Schuldgefühle an seinen Vater zurückerinnert, wird er in ihm ein Bild für Gott sehen. Gott, der paralysiert und blind in einer Ecke des Hauses sitzt, der aber auf eine geheimnisvolle Art dennoch sieht.
Das zweite Erlebnis widerfährt ihm auf einer Reise durch Spanien. 1922 wird er in der Stierkampfarena von Madrid Zeuge, wie der Torero Manuel Granero vom Stier aufgespießt wird. Er wird sich noch lange an die Sekunden erinnern, in denen die Menge wie gebannt auf das Vorgefallene starrt, ja gafft. Hier wird er zum ersten Mal gewahr, wie sehr im Schrecken auch Faszination, ja sogar Lust liegt.
Das dritte Erlebnis kommt einer eher intellektuellen Erweckung gleich. Georges Bataille hatte sich bei Adrien Borel, eine Art Hauspsychologe der Surrealisten, einer Psychoanalyse unterzogen. Dabei bekommt er von Borel ein Foto aus dem Jahre 1905 überreicht, das einen gemarterten jungen Chinesen zeigt, der, an einen Marterpfahl gebunden, auf grausame Art zu Tode gebracht wird. Der Gesichtsausdruck des Mannes erinnert ihn in fast unheimlicher Weise an die Mystiker in Ekstase. Zeitlebens wird Bataille dieses Foto betrachten, und es wird zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Wesen der Ekstase, gerade auch einer schmerzbedingten Ekstase.
Der Mensch in der Ekstase, gleich ob lust- oder schmerzvoller Art, verschmilzt mit dem Ganzen der Welt. Er wird in den Extremen dazu getrieben, sich auf animalische Weise mit seinem Körper zu vereinigen, so dass die sonst vorherrschende Differenz zwischen dem „Ich“ und dem „Körper“ aufgehoben oder besser: durchbrochen wird. Im Augenblick größter Lust wie auch größten Schmerzes kann sich der Mensch auf nichts anderes mehr konzentrieren, er ist wahrhaft außer sich und dennoch zutiefst bei sich selbst. In solchen Augenblicken ist er sein Körper. Georges Bataille formuliert es so:
„Fünf, sechs Sekunden und nicht mehr: da fühlt ihr plötzlich die Gegenwart der ewigen Harmonie. Der Mensch kann, in seiner sterblichen Hülle, das nicht aushalten; er muss sich physisch umformen oder sterben“.
Oder anders gesagt:
„Die Angst und die Verzückung der Ekstase sind Todessimulationen. In ihnen kommt das Ich zu sich selbst, in dem es sich preisgibt“.
Die Welt der Differenzen ist aufgehoben. Für Georges Bataille sind dies eminent mystische Erfahrungen, welche in seinen Augen aber naturgegeben sind, also nicht die Früchte eines Glaubens oder einer Gnade. In seinem Werk „Die innere Erfahrung“ geht er gleich zu Beginn auf seine Aversion gegen eine nur religiös verstandene Mystik ein. Die innere Erfahrung allein soll den Menschen führen und zwar dorthin, wo es ihr selber beliebt. Kein vorgegebenes Ziel soll angesteuert werden. Das Prinzip des Nicht-Wissens soll zu einer Entkleidung des Geistes und in letzter Konsequenz zu einer Entkleidung Gottes führen. Die herkömmliche Mystik bezeichnet Bataille daher als Poesie, da das Bewusstsein immer noch mit etwas ihm Vertrautem operiert, mit ihm spielt, es als Objekt vor Augen setzt oder umkreist. Das, was wir als Kontemplation bezeichnen, ist für ihn bloße Poesie. Weshalb er ihr skeptisch gegenübersteht, beschreibt er anschaulich an einem Beispiel.
Eines Abends sitzt er auf der Veranda seines Hauses und beobachtet die Atmosphäre einer Abenddämmerung mit all ihrem suggestiven Farbenspiel. Kurz vor dem Zubettgehen überkommt ihn ein wohliges Gefühl der Harmonie von allem. Er schreibt: „Die Süße des Himmels hat sich mir mitgeteilt, und ich konnte in mir den Zustand empfinden, der ihr entsprach“. Später sieht er darin den Vorgang der Kommunikation. Der Abendhimmel hat sich ihm mitgeteilt, sein „Ich“ hat dies als Empfänger aufgenommen. Es ist also nicht in diesen Abendhimmel eingegangen, ist nicht mit ihm verschmolzen. Beide Pole „Ich“ und „Abendhimmel“ standen sich gegenüber. Bataille ist damit nicht zufrieden, dies ist noch nicht die echte Mystik. Er schreibt: „Ich sträubte mich dagegen, die Erfahrung auf die Armut zu reduzieren, die ich selbst bin“. Im Grunde misstraut Bataille dem „Ich“ oder philosophisch gesprochen: dem Subjekt als Instanz. Es kann ihm nie weit genug gehen und so ist er auch ein Gegner des heiligen Augustinus, wenn dieser sagt: „Unruhig ist unsere Seele, bis sie Ruhe findet in Dir“. Nur den ersten Teil des Satzes lässt er unangetastet, ja die Seele ist immer unruhig, aber auch in Gott wird sie, so ist Bataille überzeugt, keine Ruhe finden. Die Reise geht immer weiter bis zu einem Höhepunkt, der mit dem Nichts zusammenfällt. Dieses Nichts ist zugleich schrecklich und faszinierend, da es die Vernichtung, das Zu-Nichts-Werden jeder Begierde, jedes Verlangens bedeutet, doch gleichzeitig auch den Höhepunkt, das letzte Ende jeder Begierde darstellt. Solange es noch etwas vor mir gibt, kann ich es, zumindest theoretisch, übersteigen. Hier merkt man, wie sehr er Schüler des Hegel-Interpreten Kojève war.
Die Angst vor dem Nichts, etwa in der Todesangst ist für Bataille darum vergleichbar mit dem Geiz. Denn die Angst will uns in der Welt der Vergänglichkeit, der Dauer, behalten und nicht gehen lassen. Sie suggeriert dem Menschen ständig, die Welt der Dauer für absolut zu nehmen. Und so ruft er einmal aus: Man müsse ein Gott sein, um sterben zu können.
In Batailles Universum findet sich noch eine andere schwindelerregende Brücke zur Mystik: Die sog. trangression, also die Übertretung, die Überschreitung von Grenzen. Verbote und Tabus, das ahnt jeder, haben auch eine ganz eigene Anziehungskraft. Der Mensch muss sie errichten, weil er um seine animalische Natur weiß und sie fürchtet. Georges Bataille hat sich neben vielen anderen Monstrositäten auch mit dem Verbrechen beschäftigt. Und hierbei kommt er u.a. auf die Kreuzigung Jesu Christi zu sprechen. Sie ist zuallererst das, was sie ist: ein Verbrechen. Nun wird aber im Christentum gerade ein Verbrechen zum Schlüssel des Heils. Die Größe des Verbrechens, an Jesus Christus begangen, spiegelt die Größe der Barmherzigkeit Gottes wider. Und wie so oft treibt es Bataille auf die Spitze, wenn er behauptet, dass gerade die christliche Religion das Verbrechen brauche, um den radikalen Neuanfang in Gott zu begründen.
Gabriel Marcel bezeichnete Bataille, nicht ganz ohne Bewunderung, einmal als einen, der den Nihilismus ins Extreme getrieben und ihn damit zugleich spiritualisiert habe. Aus christlicher Perspektive können wir zwar Vergleiche mit Mystikern wie Johannes v. Kreuz oder der seligen Angela v. Foligno anstellen, mit der sich Bataille übrigens intensiv befasst hat, doch bleibt er ungleich näher an Friedrich Nietzsche. Wie viele Agnostiker kam auch Georges Bataille von den Themen und Gestalten seiner christlichen Jugend nie ganz los. Doch genauso gut kann man ihn mit gewissen Schulen des Buddhismus vergleichen. Von fern könnte man noch an die Spekulationen der jüdischen Kabbala oder an gnostische Gruppen der Spätantike denken, nicht zuletzt auch an das Konzept der „coincidentia oppositorum“, des Zusammenfallens aller Gegensätze in Gott.
In Batailles Verständnis von Mystik fehlt allerdings jeder Erlösungsgedanke, jede Ethik. Gut wie Böse, Lust und Gewalt sind gleichwertige Bestandteile menschlicher Tiefe. Der Abgrund geht gleichsam in den Höhepunkt über.
Georges Bataille will die Mystik säkularisieren, sie als versteckten, aber inhärenten biologischen Faktor begreifen. Alles dient dieser Erfahrung. Doch bleibt er in seinem Universum allein, da es kein wirkliches Gegenüber gibt und auch keine wirkliche Liebe. Bataille bleibt beim Ausruf Jesu im Markusevangelium stehen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? (Mk 15, 34)“ Die Absolutheit des Todes lotet er zwar aus, doch bleibt er nur beim Menschenmöglichen, bleibt diesseits der Grenze.
Einen Lichtblick gibt es jedoch auch bei ihm. Einmal nennt er Gott: Das Unmögliche. Ganz ähnlich hat es der biblische Jesus auch einmal ausgedrückt, aber ins Positive gewendet, denn bei ihm heißt es: „Für Gott ist nichts unmöglich“ (Lk 1, 37).