Ein Stück aus dem Tollhaus: Eugène Ionescos „Die Nashörner“

Sein erstes Drama soll Eugène Ionesco als Kind verfasst haben. In diesem namenlos gebliebenen Stück wird zunächst gezeigt, wie eine Schar Kinder das Abendbrot isst. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel fangen die Kinder an, das Geschirr zu zerschlagen. Dann werden die Eltern kurzerhand aus dem Fenster geworfen.

Schon in der Phantasie des kleinen Ionesco zeigt sich ein Gespür für die Beziehung zwischen dem Absurden und dem Grausamen, zwischen der Komik und dem Trauma.

Unsinn, der tief blicken lässt, sollte zu einem Markenzeichen des Meisters des sog. absurden Theaters werden. Diese Theaterform hat Strindbergs Vorstellungen vom dynamischen, provokativen Einakter und Alfred Jarrys legendären „König Ubu“ aus dem Jahr 1896 zu Vorbildern. Besonders letzterer prägt Ionesco zusammen mit dem Phrasentheater seines rumänischen Landsmannes Ion Luca Caragiale so sehr, dass er einmal sagen wird: „Ich habe Jarry nie gelesen. Man liest Jarry nicht, wie man die Bibel nicht liest“. Das war als Bekenntnis gemeint. Um Pointen war Ionesco, der erst 38jährig zur Bühne findet, aber bereits mit fünf Jahren Individualist gewesen sein soll, nie verlegen. 1909 in Rumänien als Sohn eines rumänischen Vaters und einer französischen Mutter geboren, pendelt er lange Zeit zwischen Rumänien und Frankreich hin und her. Er gilt seinem ersten positiven Kritiker Jean Anouilh daher als Erneuerer des französischen Theaters, der wie Samuel Beckett (Irland) und Arthur Adamov (Russland), von den dunklen Rändern Europas nach Paris gekommen war. Hier traf er auf  andere Exilrumänen wie Cioran, Eliade oder den Bildhauer Brancusi, der bereits zu einer Institution geworden war. Mit dem Land seines Vaters, der die Familie früh verlassen hatte und der eine chamäleonhafte Anpassung an die verschiedenen Diktaturen im Land an den Tag legen sollte, verband ihn wenig. Die Abneigung gegen ihn soll Ionesco nach eigener Aussage zu seinen Stücken inspiriert haben.

1950 kann er damit endlich den ersten Erfolg feiern. Im kleinen Théâtre des Noctambules wird „Die kahle Sängerin“ zu einem Ereignis. Weitere dieser Art werden folgen, 1959 dann „Die Nashörner“. Aus diesen muffigen Kellerbühnen steigt, gleichsam wie Unbewusstes, das innere Theater des Menschen an die Oberfläche. Eugène Ionesco zwingt den Zuschauer in eine Konfrontation mit dem Absurden und Grotesken des Lebens (d’extérioriser l‘angoisse, „die Angst nach außen bringen“, wie er sagt). Logik und Vernunft sind nicht nur Attrappen, sondern die eigentliche Kulisse, vor der das Irrationale seine Burlesken feiert – und das ist nicht nur lustig. Ionesco will nicht belehren und nicht heilen. Katastrophen statt Katharsis soll der Zuschauer mit-erleben und nicht bloß nachvollziehen. Er soll damit an die Zerbrechlichkeit von Existenz, zumal einer vernunftgegründeten, gemahnt werden. Die Ironie und der Sarkasmus dienen nicht der Erleichterung dieses Schicksals sondern sind eher retardierendes Moment bzw. retardierende Mittel. Ihr Haupt-Vehikel, die Sprache, erweist sich als ebenso wenig vertrauenswürdig. Eine „Schablonensprache von Marionetten“ (François Bondy) lässt echte Kommunikation allenfalls ansatzweise zu. Loriot hätte bei vielen Dialogen Pate stehen können. Immer wieder ist er dafür von Kritikern angegriffen worden, denen seine Stücke zu destruktiv waren. In Ionescos Augen waren sie nicht destruktiver, als es das Leben selber war. „Der imaginäre Raum ist von Gegenwart bevölkert“, so drückte er einmal nicht nur sein ästhetisches Empfinden aus, sondern beschrieb damit die Kräfteverhältnisse, so wie sie sich ihm darboten.

Solche Stücke brauchen besondere Helden. Der Held von „Die Nashörner“ heißt Bérenger, genauso wie der König im Nachfolgestück „Der König stirbt“. Ionesco verleiht ihm in einem Kommentar den Titel „Held der Arrièregarde“ und macht damit klar, wo er zu finden ist – hinten.

Im ersten der drei Akte der „Nashörner“ spielt Bérenger fast eine Nebenrolle. Depressiv und dem Alkohol ergeben sitzt er in einem Dorfbistro und merkt kaum, dass ein frei herumlaufendes Nashorn für Furore sorgt. Als alle Welt um ihn herum in Staunen gerät und bald zu fachsimpeln beginnt, stellt er sich versonnen die Frage, wer er selber eigentlich sei und kommt zu keiner zufriedenstellenden Antwort („Je ne sais pas si je suis moi“, „Ich weiß nicht, ob ich ich bin“). Der Schwall an Antworten, den er von verschiedener Seite während der ganzen drei Akte zu hören bekommt, stammt von Typologien. Ionesco lässt weniger Charaktere denn Typologien auftreten, die, mit einer Ausnahme, zwar Eigennamen tragen, doch alle jeweils nur ein einziges Sprachspiel beherrschen und dies immer wieder aufführen. Das führt dazu, dass die Personen in ihrer Stereotypie kaum zueinanderfinden und stattdessen beständig aneinander vorbeireden. Der forsche und selbstbewusste Jean, der distanzierte Logiker, der ideologische Botard, der verständnisvolle Dudard und die sentimentale Daisy sind weder der anschwellenden Nashorn-Flut noch dem einsamen Bérenger und seinen reifenden Einsichten gewachsen. Wie durch Zauberhand verwandeln sich immer mehr Menschen in Nashörner, die bald die öffentlichen Plätze dominieren. Als Bérenger die Verwandlung seines Bekannten Jean in dessen Haus miterleben muss, ist seine Hilflosigkeit auf dem Höhepunkt und die Logik auf einem Tiefpunkt: „Ich sage nichts, ich mache nur Brrr…das macht mir halt Spass“, spricht der sich wandelnde Jean. „Sie haben ein Nashorn im Haus, rufen Sie die Polizei!“, ist dann Bérengers Schlusssatz aus der bürgerlichen Welt, den er an die verdatterte Hausmeisterin richtet. Statt der Polizei tritt Dudard bei Bérenger auf. Er kann den immer wacheren Bérenger nicht mehr beschwichtigen. Vor allem sein resignatives Verständnis für das Groteske („Quoi de plus naturel qu’un rhinocéros?“ „Was wäre natürlicher als ein Nashorn?“) stachelt Bérengers Widerstand noch an. Auch die abschließende Möglichkeit einer Romanze mit Daisy, die alsbald kein schlechtes Wort mehr über die Nashörner verträgt, wird durch die Umstände und die strikte Weigerung Bérengers, diese als normal anzuerkennen, zunichte gemacht. Alle, so bleibt gegen Ende des Stücks anzunehmen, werden zu Nashörnern, nur der völlig isolierte Bérenger nicht (obwohl er sich einmal sogar anstrengt!). Doch auch er hat sich verwandelt. Keine Spur mehr von dem lebensuntüchtigen Depressiven aus dem Bistro. Anfangs noch betrunken, wird er immer nüchterner. Bérenger ist der letzte Mensch und will es bleiben. Am Ende verlangt er entschlossen nach seinem Gewehr.

Ionesco wäre von der Theorie des Schwarzen Schwans fasziniert gewesen, witterte er doch überall die Sollbruchstellen unserer scheinbar so bombenfesten civitas. Seine „Nashörner“ verleiten auch heute noch dazu, diese überall zu sehen und vor ihnen zu warnen, wie manche Rezensionen in den Leitmedien illustrieren. Nashörner sind bekanntlich immer die anderen!

Unabhängig davon, wer sich in was verwandelt, ist in Ionescos Stück das Unbehagen an der Vernunft deutlich geworden. Mit Staunen und Humor konnte man beobachten, wie die Menschen bis zuletzt von ihren Banalitäten festgehalten werden und sich an ihnen festhalten. Aus dem Inneren der Normalität wächst das Monströse empor. Die Gewöhnung daran ist vielleicht sogar das eigentlich Monströse.

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