Eine Frage des Kulturbegriffs

Über einen Essay von Terry Eagleton

Kultur ist ein höchst ambivalenter Begriff. In seiner Verwendung ruht zumeist ein normativer und ein deskriptiver Kern. Dementsprechend ist es also höchst unklar, worüber jemand spricht, wenn er das Wort Kultur verwendet. Terry Eagleton möchte mit seinem jüngsten Titel „Kultur“ dieses Problem angehen und nimmt unterschiedliche Kulturbegriffe unter die Lupe.

Terry Eagleton, Kultur. Erschienen im Ullstein Verlag.

Zweifelsohne gehört der Brite Terry Eagleton zu den lesenswerten marxistischen Autoren. Durch seine Einführung in die Literaturtheorie erlangte der Professor für Literatur internationale Bekanntheit. Auch seine Ausführungen zum historischen Materialismus und der New-Left-Bewegung sind zu empfehlen.

In „Kultur“ geht Eagleton über seine bisherigen Betrachtungen hinaus und möchte ein „Plädoyer auf die Rückbesinnung unsere kulturellen Werte“ liefern. Dieses Unterfangen gelingt Eagleton jedoch nicht ganz, da sein Kulturbegriff, wie später deutlich wird, mit seiner marxistischen Weltanschauung verwoben ist.

„Wenn Kultur als Kritik mehr sein soll als müßiges Spiel der Phantasie, muß sie auf Praktiken der Gegenwart verweisen, die etwas von der Freundschaft und Erfüllung verwegnehmen, welche sie ersehnt. Sie findet sie teilweise im künstlerischen Arbeiten und teilweise in jenen Randkulturen,die noch nicht ganz von der Logik der Nützlichkeit vereinnahmt worden sind.“

Stadien des Kulturbegriffs

Obgleich an mehreren Stellen des Buches der rote Faden nicht kenntlich ist, führt uns Eagleton eindrucksvoll durch den Dschungel der unterschiedlichen Begriffe und Interpretationen von Kultur. Schnell wird klar, dass der Begriff, nach Eagleton, vor allem mit der „materialistischen“ Grundlage der Geschichte zusammenhängt. Eine grundlegende Unterscheidung wird zwischen dem deutschen, werteorientierten Kulturbegriff und dem angloamerikanischen, eher praxisorientierten Kulturbegriff vorgenommen. Historisch lassen sich die Wandlungen des Begriffs nach Eagleton in drei Entwicklungsstadien unterteilt.

Erstens. Zunächst steht der Begriff „Kultur“ für einen materiellen Prozess, in dem sich die ländlichen Gesellschaften zu urbanen Kulturen zusammenschließen. Die Entstehung von Städten (und Burgen) eröffnet die Möglichkeit, sich selbst zu kulturvieren und sich nicht vordergründig mit der Erwerbstätigkeit widmen zu müssen. Kultur eröffnet also hier die Möglichkeit, die Natur zu transzendieren und neue Ausdrucksformen des Lebens zu schaffen. Kultur ist ein Prozess des geschichtlichen Fortschreitens: vom Naturzustand zur Kultur.

Zweitens. Durch die Romantiker – und im Speziellen Johann Gottfried Herder – bekommt der Begriff eine zivilisationskritische Wendung. Hier wird Kultur als Gegensatz zur Zivilisation verstanden. Demnach sei die Zivilisation rein fiktional, da sie auf irrationalen Werten beruhe und nicht auf dem realen menschlichen Leben. Kultur wird als umfassende Lebensweise verstanden. Ganz falsch ist diese Deutung nicht, da die Zivilisation durch die Philosophie der Aufklärung auf ein theoretisches Endziel ausgerichtet ist. Die Zivilisation hat eine Welt von „jeglicher Transzendenz Entkleidet“ geschaffen und weckt somit das Begehren nach einer Alternative. Hier entsteht ein romantischer Begriff der Kulturen.

Drittens. In der modernen Industriegesellschaft verliert Kultur seinen elitären Charakter, den er in Teilen noch im 18. und 19. Jahrhundert innehatte. Kultur wird nicht mehr von Einzelnen produziert, um dem menschlichen Leben einen höheren Ausdruck zu verleihen, sondern von einer entindividualisierten Masse konsumiert. Die mechanischen Prozesse der Moderne werden auf die Kultur übertragen. Die Kultur wird materialisiert und zum Unterhaltungs- und Herrschaftsinstrument. Jeder Winkel des gesellschaftlichen Lebens verschmilzt mit dem sozialen. Diese Interpretation findet vor allem in Theodor W. Adornos Konzept der Kulturindustrie seinen Ausdruck.

„Tatsächlich ist die Moderne nicht zuletzt der Bericht über die allmähiche Entzauberung dieses edlen Ideals von Kultur.“

Grenzen des historischen Materialismus

Terry Eagleton verweist bei seinem Streifzug durch die Geschichte und Bedeutungsvielfalt des Begriffs immer auf die Existenz universeller Werte. Dabei wehrt er sich besonders gegen den Kulturrelativismus. Ganz widerspruchsfrei ist seine Annahme dabei freilich nicht, wenn genau die Werte universelle Gültigkeit besitzen sollen, die er dafür erklärt. Warum das so sein soll erklärt er leider nicht, sondern pocht dabei auf ein grundlegendes Menschenverständnis. Eagleton meint außerdem, die materiellen Bindungen seien grundlegender als die der Kultur. Demnach könne der Mensch beispielsweise allein aufgrund von verbesserten materiellen Verhältnissen frei sein.

An dieser Stelle offenbart sich der Zusammenhang zwischen einem marxistisch geprägten Kulturbegriff und der theoretischen Grundlage der Moderne: Die materiellen Voraussetzungen sind das, was den Menschen letztlich ausmacht. Wenn die materiellen Verhältnisse geändert werden, kann der Mensch geändert werden, so die Annahme. Die kulturellen Prägungen und Konflikte treten hinter die materiellen zurück. „Materiell“ bedeutet für Eagleton „Krieg“, „Hunger“, „Krankheiten“ etc. Dass den großen Konfliktlinien der Moderne jedoch immer ein kultureller Kern innewohnt, ist eine Einsicht, die offensichtlich den klassischen konservativen Autoren vorbehalten bleibt. Denn auch Eagleton verwehrt sich trotz intensiver Beschäftigung und hohem Reflexionsniveau gegen diese Einsicht und hält am Dogma des materiellen Fortschritts fest.

„Weit davon entfernt, ein Gegengewicht zur Macht zu bilden, ließ die Kultur sich auf ein geheimes Einverständnis mit ihr ein. Statt das zu sein, was uns retten könnte, könnte sie darauf angewiesen sein, dass wir sie wieder an ihrem alten Platz verankern.“

Fazit

Der entscheidende Punkt, der Eagleton entgegenzuhalten wäre, ist die folgende Hypothese: Wenn die Konflikte der Moderne tatsächlich auf einer materiellen Grundlage beruhen, entspringt die einzige Möglichkeit, ihr zu opponieren, dann nicht daraus, einen Blick auf die Welt zu prägen, der auf einer anderen Grundlage als der materiellen beruht? Die Kultur des Menschen zu stärken heißt, die Immunisierung gegenüber einer entfremdeten und materialistischen Welt.

Teilweise wirkt die Abhandlung von Eagleton etwas unübersichtlich, was vor allem daran liegt, dass kein roter Faden zu erkennen ist. Thematisch springt Eagleton ebenfalls willkürlich hin und her, so dass es an einigen Stellen anstrengend ist, ihm zu folgen. Zugleich liegen hier aber auch die Stärken des Buches, da ein Panorama an Autoren und Positionen in Bezug auf den Kulturbegriff eröffnet wird. Viel entscheidender ist jedoch die Feststellung, dass über Kultur nie objektiv geschrieben werden kann, wie beispielsweise über einen naturwissenschaftlichen Vorgang. Die Analyse der Kultur kommt nie ohne Normativität aus.

Terry Eagleton, Kultur, Berlin 2017. 20€. 

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