Eine Hütte ist, anders als ein Haus, nicht für Generationen. Eine Hütte ist zeitweilige Zuflucht, Unterkunftsbehelf, Provisorium. Doch sie kann weitaus mehr sein als das. Sie kann auch Ausdruck einer Lebensform sein. Es kommt ganz auf ihren Bewohner an. Zuweilen wird sie sogar zur Denkerhütte.
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Am Anfang denkerischen Hüttenwesens stand kein rechteckiges Gehäuse mit Dach und Tür, sondern eine schlichte Tonne, ein ausrangiertes Fass, das vordem der Aufbewahrung von Lebensmitteln gedient haben mochte. Die sprichwörtliche Tonne des Diogenes von Sinope wurde zum Sinnbild eines radikal von der Norm abweichenden Lebensentwurfs: Der Denker betreibt keinen Aufwand um seine Person, nicht einmal ein festes Haus benötigt er – ein großes Fass ist ihm Schutzort und Rückzugsraum genug. Materielle Besitztümer hat er nicht, wortwörtlich lebt er von der Hand in den Mund (also ohne Essgeschirr). Außer Essen, Trinken, Kleidung, Behausung und, nun ja, dem Geschlechtsverkehr erkennt er keinerlei menschliche Grundbedürfnisse an. So lebt er denn sein Leben auch recht öffentlich – einschließlich seines Sexuallebens, das nach Art der Hunde vor aller Augen auszuleben damals noch als unzüchtig galt. Deshalb wurde ihm der Beiname „Hund“ verliehen, altgriechisch kyon. So kam übrigens auch die Denkschule der Kyniker zu ihrem Namen. Doch nicht jeder, der in einer kleinen Hütte haust, ist deshalb schon denkwürdig.
Die Bewohner heutiger Tiny Houses beispielsweise sind meist ökologisch-gutmenschlich orientiert und geben sich gern bedürfnislos. Tatsächlich beherrschen sie die Kunst des social-media-konformen Downsizings leidlich gut. Macht sie das schon zu Nachfahren des Diogenes? Schaut man genauer hin, erkennt man, dass sie mit diesem Prinzip nur spielen – und zwar auf vergleichsweise hohem materiellem Niveau. So weit, dass man auf jeden Komfort verzichten möchte, geht die Radikalität dann doch nicht. Nein, Tiny Houses sind durchaus kostspielige, ökologisch korrekte und meist recht behaglich ausgestattete Scheinhütten. Sie gaukeln die Bedürfnislosigkeit nur vor – gekauft und genutzt werden sie vor allem für den Moralprofit ihrer Bewohner. Wenden wir uns also rasch wieder ab von diesem zeitgeistigen Bedürfnislosigkeitssurrogaten und schauen uns einige Archetypen der echten Hütte sowie ihre Bewohner näher an: Die Hütten Henry David Thoreaus, Martin Heideggers und Theodore „Ted“ John Kaczynski. Doch zuvor noch eine Bemerkung zur Auswahl und ihrer Beschränkung.
Gewiss gab und gibt es weitere denkwürdige Hütten – längst nicht alle können wir hier berücksichtigen. Nur am Rande gestreift seien hiermit beispielsweise Ernst Jüngers Kurzzeitrefugien Schilfhütte und Auwaldhütte im Drôle de guerre (September 1939 bis Mai 1940). Oder die norwegische Hütte Ludwig Wittgensteins (8 Jahre vor Heideggers Hütte errichtet). Die reetgedeckte Hütte mit Südseeflair im Seebüller Garten Emil Noldes. Die Hütten der Mönche auf dem Berg Athos. Die Schwitzhütten der Indianer. Oder der hüttenähnliche Unterstand Robinson Crusoes als Exempel aller provisorischen Unterkünfte von Schiffbrüchigen. Vielleicht verfasst ja einer der hier Lesenden einmal eine umfangreiche Monographie über das Thema „Die Hütte als geistige Lebensform“? Meine Sympathie wäre ihr oder ihm sicher.
Walden als Modellprojekt: Henry David Thoreau
Die knapp 12 Quadratmeter messende Blockhütte von Henry David Thoreau ist der neuzeitliche Einstieg in die Hütte als geistige Lebensform – Inspiration für unzählige Nachahmer auf der ganzen Welt. Thoreau suchte 1845 die bewusste Abkehr von der sich ausbreitenden technischen Zivilisation.
Er verabscheute den Herrschaftsanspruch des Staates über das Individuum ebenso wie eine auf rasant wachsende Konsumbedürfnisse der Masse abzielende Wirtschaftsweise und probte auf dem Grund und Boden des befreundeten Schriftstellerkollegen Ralph Waldo Emerson die Rückkehr in eine Wildnis, die allerdings schon damals keine mehr war.
Ein Jahr lang führte er in der Nähe von Concord/Massachusetts das Leben eines weitgehend nach dem Selbstversorgermodell lebenden Aussteigers – in Sicht- und Rufweite der Zivilisation. Doch diesen Umstand wollen wir ihm nicht etwa zum Vorwurf machen – das alles wollte ja auch gar nicht mehr sein als das zeitlich begrenzte Experiment eines Menschen, der weder Indianer noch Trapper zu sein vorgab. Thoreau blieb der Zivilisationsmensch, der er war. Und als solcher suchte er nach einer lebbaren Alternative. Der Titel Walden, unter dem Thoreau seine Erlebnisse erstmals publizierte, verdankt sich einem kleinen See, dem nahen Walden Pond.
Sein Verhältnis zur Natur war nicht wirklich existenziell im Sinne des Überlebenskampfes, sondern ästhetisierend und reflektierend. Davon legen seine heute noch überaus lesenswerten Schriften mit ihren sorgfältigen, hintergründigen Naturbeobachtungen Zeugnis ab. Nimmt man Thoreau, wie es immer wieder geschieht, als Urtypus des kernigen Naturburschen, so offenbart sich darin also ein Missverständnis. Auch wenn ein zeitgeistiges Outdoor-Fanzine sich heute mit dem Namen „Walden“ schmückt.
Einen Nachbau der Hütte kann man am Walden Pond besichtigen.
Denkerhütte im Schwarzwald: Martin Heidegger
Die Hütte Martin Heideggers liegt oberhalb von Todtnauberg und misst 7 x 6 Meter. Damit ist sie unter den hier skizzierten Hütten die bei weitem größte. Erbaut 1922, war sie der Ort, an dem der Philosoph zunächst an „Sein und Zeit“ arbeitete und die Geschichte der abendländischen Metaphysik aus ihren Anfängen neu bedachte. Doch auch während der folgenden fünf Jahrzehnte blieb sie Denkwerkstätte, Ausgangsort für Wanderungen und Skitouren sowie Rückzugsort gleichermaßen.
Ob der Denker dort oben zuweilen auch seinen diversen amourösen Abenteuern nachging? Wenn, dann tat er es anders als Diogenes nicht für jedermann sichtbar, sondern in schicklicher Zurückgezogenheit. Sicher aber ist, dass Heidegger in der Hütte keineswegs nur die Ruhe und Abgeschiedenheit und die Begegnung mit dem Elementaren suchte – oft war er mit Studenten, Freunden und Mitarbeitern dort, empfing Besucher aus dem In- und Ausland. Das legendäre „Spiegel“Gespräch mit Rudolf Augstein etwa wurde dort oben geführt. Zu der Zeit entstanden auch die Fotos von Digne Meller Marcowicz über das Hüttendasein des Philosophen – wohl die schönste privateste Veröffentlichung, die jemals über das Leben Heideggers publiziert wurde. Eine detaillierte Darstellung des Baukörpers hat der Architekt Adam Sharr im Jahr 2006 veröffentlicht. In diesem Büchlein erfährt man wirklich alles, was über die Hütte zu wissen gibt. Die enthaltenen Angaben dürften ausreichen, um die Hütte detailgetreu nachzubauen – bei Bedarf auch im Originalmaßstab.
Anders als Thoreau ging es Heidegger nicht um eine Begegnung mit der Wildnis, um ein Zurück zur Natur. Vielmehr suchte und fand er die Nähe zu den ansässigen Bauern und Dorfbewohnern, die er neben allem Nachbarschaftlichem (Heidegger half, wenn Not am Mann war, zumindest in jüngeren Jahren den Waldbauern auch schon mal bei der harten körperlichen Arbeit) ganz sicher auch als nicht von den Auswüchsen des modernen Großstadtlebens verdorbene Studienobjekte nutzte.
Eine andere Quelle seines Nachdenkens waren die Schriften der Dichter und Denker vergangener Jahrhunderte. So ergab sich an diesem Ort ein produktiver Kontrast zwischen geerdetem Leben einerseits und geistiger Höhenluft andererseits.
Wenn Heidegger während des Semesters nicht in der Hütte lebte, bewohnte er wie seine Professorenkollegen richtige Häuser – zunächst in Marburg, später in Freiburg. Dennoch war die Hütte mehr als ein Wochenendrefugium. Er verbrachte oft Monate am Stück dort, das durchaus karge Leben schätzend. Zwar gab es seit 1931 elektrischen Strom, doch das Wasser für die Zubereitung der Speisen und die Körperpflege kam weiterhin aus dem Brunnen. Für Wärme sorgte ein holzbefeuerter Ofen.
Die Hütte steht noch heute am Ort und wird privat genutzt.
Terrornest in Montana: Ted Kaczynski
Unter den hier vorgestellten Hüttenbewohnern war Ted Kaczynski der wohl rabiateste. Der Assistenzprofessor für Mathematik an der Universität von Kalifornien in Berkeley galt als außerordentlich begabt und hatte gute Karriereaussichten. Doch der Wissenschaftsbetrieb als Zulieferer des industriell-technologischen Systems stieß ihn ab. Er zog in die Wildnis von Montana.
1971 errichtete er eine ca. 3 x 3,65 Meter messende Einsiedlerhütte mit Lagerraum unter dem Dach. Sein Ziel war es, als Selbstversorger sich von dem zu ernähren, was das Land hergab. Hätte er sich mit diesem bescheidenen Leben im Abseits begnügt, wäre er allen, die ihn kannten, wahrscheinlich als etwas verschrobener, doch harmloser Waldschrat in Erinnerung geblieben. Doch ob es ein klassischer Hüttenkoller war, die fortschreitende Zerstörung der Natur mit negativen Folgen auch für sein Selbstversorgerdasein oder das Ergebnis eines langen intensiven Nachdenkens: Ted Kaczynski begann im Jahr 1978, Briefbomben zu versenden.
Die Adressaten seiner Sendungen waren Universitätsangehörige, Airlines sowie Betreiber von Computerläden. Von 1978 bis 1995 verschickte er insgesamt 16 Sprengsätze per Post. Drei der Empfänger starben, 23 wurden verletzt. Weil Universitäten und Airlines die bevorzugten Opfer seiner Attacken waren, wurde er der UNA-Bomber genannt.
Im Juni 1995 verschickte er erstmals geistigen Sprengstoff. Ein Manifest. Es ging an die Washington Post und die New York Times. Kaczynskis Angebot: Einstellung der Anschläge gegen Veröffentlichung des Manuskripts. So fand das UNA-Bomber-Manifest (freilich ohne die Identität seines Verfassers zu enthüllen) tatsächlich seinen Weg in die Öffentlichkeit. Darin beklagte der Autor die Aushöhlung von Freiheit und Würde des Individuums durch das industriell-technologische System mit der Folge der Ausbreitung psychischer Probleme wie Depressionen und Burn-out. Die Veröffentlichung wurde ihm zum Verhängnis. Sein jüngerer Bruder hatte anhand des Schreibstils und der ausgeführten Ideen einen Verdacht und informierte die Behörden. Im April 1996 wurde Ted Kaczynski festgenommen und später zu achtmaliger lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt, die er bis heute in einem Hochsicherheitsgefängnis in Colorado verbüßt.
Die rekonstruierte Hütte war bis Dezember 2019 in einem Museum zu besichtigen.
Echte Revolutionäre diskutieren nicht in Salons und Caféhäusern – sie hausen in Hütten
Bei aller Verschiedenheit der drei Hüttenbewohner eint sie doch das revolutionäre Element, das durchaus radikale Streben nach tiefgreifender Veränderung. „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ hatte Georg Büchner bereits 1834 im Hessischen Landboten verkündet.
Thoreau sucht die individual-anarchistische Abkehr von der Zivilisation: Die Waffe seines Kampfes war seine Lebensweise, über die er in seinen Schriften berichtete. Der Palast, den er angriff, war die unheilvolle Verbindung von Geld, Macht, Konsumlust und Naturzerstörung.
Heidegger erklärte einer zweieinhalb Jahrtausend alten Denktradition den Krieg – einen Krieg, den er zwar nur im Geiste und mit Geistern führte, doch mit einer denkerischen Energie in der Auseinandersetzung, die ihresgleichen sucht. Seine gefährliche Waffe: eine Umformung und Neubestimmung der überlieferten Begriffe, eine neue, fremdartig wirkende Sprache, die den Gegner auf ein Terrain lockte, auf dem er gnadenlos scheitern musste. Der von Heidegger angegriffene Palast: eine Philosophie, die sich im akademischen Betrieb gemütlich eingerichtet hatte – keine Unruhe des Fragens mehr, sondern Verwaltungsarbeit und Versorgungsposten.
Wo Henry David Thoreau die Auswüchse der Zivilisation und den Machtanspruch des Staates durch Rückzug bekämpfte, wo Martin Heidegger die erstarrte traditionelle Philosophie in einen Guerillakrieg des Wortes verwickelte, griff Ted Kaczynski als einziger der drei Hüttenbewohner auch zu echten Waffen. Seinen Kampf gegen den Palast des industriell-technologischen Systems führte er mit Sprengstoff (die Worte wurden im Manifest nachgereicht, das längst auch in deutscher Übersetzung käuflich zu erwerben ist).
Kaczynski wie auch Thoreaus Ideen leben heute in anarchistisch-ökoradikalen Zirkeln fort. Auch das Denken Heideggers wirkt eher im Verborgenen, abseits des hiesigen akademischen Betriebs. Seine Rezeption in Russland und Fernost dürfte sich möglicherweise langfristig als folgenreicher erweisen als seine Wirkgeschichte in Deutschland, wo der akademische Betrieb ihn längst in die Abstellkammern und Giftschränke entsorgt hat.
Warum eine Hütte?
Bleibt zu fragen, was die Hütte so anziehend macht vor allem für Denker. Die Hütte reduziert erstens das Leben auf das Wesentliche – allein aufgrund ihres begrenzten Raumangebots bleibt alles Überflüssige und Ablenkende außen vor. Man ist gezwungen, sich sehr genau zu überlegen, was man mit hineinnimmt in das Hüttenleben.
Zweitens steht die Hütte im geografischen Abseits – sie ist nicht so leicht erreichbar für die Störenden: die Gaffer, die Schwätzer, die Unterhaltungssüchtigen, die Journalisten, den Briefträger und die Behörden. Damit bietet die Hütte das, was dem Denker heilig ist: Ruhe und Abgeschiedenheit. Auch hier also die Konzentration auf das Wesentliche.
Der dritte Grund: Die Hütte lädt dazu ein, die persönlichen Verhältnisse neu zu ordnen – materiell ohnehin auf das Nötigste reduziert und nicht abgelenkt durch die Außenwelt, ist die Hütte eine Konfrontation mit dem Menschsein selbst. Gesteigert wird das Potenzial einer solchen Begegnung, wenn das Elementare hinzutritt: der durch Lichtsmog ungestörte Sternenhimmel, das Brausen des nahen Ozeans, das überwältigende Bergpanorama, das Schweigen der Waldeinsamkeit.
Aus der Begegnung mit dem Selbst im elementaren Raum entsteht dann fast zwangsläufig ein Nachdenken darüber, ob das Erlebte nicht auch auf gemeinschaftliche Strukturen zu übertragen sei. Heidegger suchte für einige wenige, aber verhängnisvolle Monate die Nähe zum nationalsozialistischen Staat. Kaczynski wurde zum Terroristen.