Der Traum vom heilen Europa – Stefan Zweig

Die katastrophalen Umwälzungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Gebeine von Abermillionen in die Knochenmühlen geführt. Doch der physischen Vernichtung ging eine umfassende geistige Zerstörung unseres Kontinents, Europas, voraus. In seinem autobiographischen Letztwerk widmete sich der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig (1881 – 1942) ebenjenen Verheerungen, die dem Leser anhand seines wendungsreichen Lebensweges nähergebracht werden. Das 1940 im brasilianischen Exil entstandene Werk ist Zeugnis der inneren Zerrissenheit und Heimatlosigkeit: der Verlust einer für immer verlorenen, unwiederbringlichen Welt.

Schon im Vorwort wird deutlich, dass man es beim Autor mit jemandem zu tun hat, dem das Schicksal nicht nur ein Los zugewiesen hatte. Wohlbehütet war Zweig aufgewachsen, bereits früh aufgrund seines literarischen Talents verehrt und gefeiert, später allerdings verbrämt, seines Wohlstands und seiner geistigen Heimat Europa beraubt. Wie viele Werke anderer jüdischer Schriftsteller, so fanden sich auch Zweigs Bücher nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Feuer wieder. Die „Erinnerungen eines Europäers“ sollten künftigen Generationen wohl auch ein Bild davon zeichnen, wie kostbar und zerbrechlich die Freiheiten waren und sind, von denen man auch damals in törichter Naivität glaubte, sie seien für alle Zeiten verbrieft.

Zunächst entführt Zweig den Leser in eine ganz andersartige Welt, das Wien des Fin de Siècle. Als Sohn eines erfolgreichen und gewissenhaft schaffenden jüdischen Textilunternehmers wurden ihm alle Privilegien zuteil, die man zu jener Zeit genießen konnte. Nach der „Tretmühle“ der Volksschule besuchte er das Gymnasium und später wie selbstverständlich die Universität, um sein Leben in den Dienst der Erkenntnis und der Philosophie zu stellen. Verständlicherweise bezeichnet Zweig jene solide Zeit als „Welt der Sicherheit“, in der sich jedermann seines bescheidenen Auskommens sicher sein konnte. Die relative Sorglosigkeit diente als Gradmesser der Zufriedenheit, und nichts scheint begreiflicher als die Tatsache, dass gerade in dieser Zeit der allgegenwärtige Fortschrittsoptimismus das Lebensgefühl wie nichts anderes beherrschte. Die Wissenschaft, welche Zweig als „Erzengel des Fortschritts“ zu beschreiben pflegte, übertraf sich von Tag zu Tag selbst, sodass der Glaube an ein durchweg positives Fortschreiten der Geschichte, zumindest innerhalb bestimmter Milieus, beinahe religiöse Dimensionen annahm.

Wir jauchzten in Wien, als Blériot den Ärmelkanal überflog, als wäre es ein Held unserer Heimat; aus Stolz auf die sich stündlich überjagenden Triumphe unserer Technik, unserer Wissenschaft war zum ersten Mal ein europäisches Gemeinschaftsgefühl, ein europäisches Nationalbewusstsein im Werden.“

Zweig gelingt es, die großen historischen und politischen Zusammenhänge mit persönlichen Erlebnissen und Anekdoten zu verweben. Gebannt folgt man der nie langatmig wirkenden, lebhaften Erzählung. Zu keinem Zeitpunkt hinterlässt auch die detaillierteste Darstellung einen schwülstigen Beigeschmack, stets bleibt der Ausdruck pointiert, gewählt, durchdacht. Aufgrund der lebendig geschilderten Erinnerungen fühlt man mit und sieht das alte Wien und Paris durch die Augen eines wehmütigen Träumers. Durch jede Zeile dringt eine nicht näher zu beschreibende, unterschwellige Dankbarkeit, jene „goldenen Jahre“ vor der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts erlebt haben zu dürfen. Das langsame aber stetige Einsinken in den destruktiven Strudel des Schicksals wird über die gesamte Länge des Werks eindrucksvoll beschrieben. Der Leser schlendert gemeinsam mit Zweig über den Champs-Élysées und bewundert das alte, prachtvolle und blühende Europa. Wen wundert da die Äußerung, er ziehe die Zeit vor, in der Parteien noch Blumen anstatt Totenköpfe als Embleme für sich wählten. Obwohl der Grundtenor verständlicherweise düster ausfällt, hellen gelegentlich erzählte amüsante Begebenheiten das Bild zwischendurch auf.

Während seiner Studienjahre vagabundiert der stets aufgeschlossene und liberale Autor durch Europa und die Welt, er sieht Amerika und Indien, lebt in Paris und für kurze Zeit in London. Zu Hugo von Hofmannsthal, mit dem er gemeinsam die Schulbank drückte, sowie mit historisch höchst bedeutsamen Persönlichkeiten wie Walter Rathenau, Rainer Maria Rilke und sogar Theodor Herzl und Sigmund Freud verbanden ihn freundschaftliche Beziehungen. In der französischen Hauptstadt traf er Rilke, und als er Rodin in seinem Atelier arbeiten sieht, brachte er vor lauter Ehrfurcht kaum ein Wort heraus, so heftig erfasste ihn die Bewunderung für den bekanntesten Bildhauer Frankreichs. Literarische und philosophische Einflüsse sammelt Zweig zuhauf, und so sind neben Nietzsche und Emerson auch Lemonier und Baudelaire im Denken und Fühlen präsent. Von besonderem Wert sind die Anmerkungen zum kulturellen Leben im Habsburgerreich und insbesondere Wiens. Die Oper und das Theater waren die Epizentren der Aufmerksamkeit, und so lauschte so mancher bürgerliche Sprössling bereits in jungen Jahren den Werken Wagners, Strauß‘, den Stücken Hauptmanns und anderer Epigonen. Strebsam, jedoch stets erfüllt von Argwohn gegenüber Autoritäten durchlief er dann später die Universitätsjahre:

Für mich ist Emersons Axiom, dass gute Bücher die beste Universität ersetzen, unentwegt gültig geblieben, und ich bin noch heute überzeugt, dass man ein ausgezeichneter Philosoph, Historiker, Philologe, Jurist und was immer werden kann, ohne je eine Universität oder sogar ein Gymnasium besucht zu haben.

Die ruhige und gemächliche Stimmung jener Jahre sind jedoch nichts weiter als die Ruhe vor dem Sturm, und so sind neuartige Phänomene wie die Emanzipation, die Freudsche Psychoanalyse und der langsam aber stetig einsetzende Werteverfall die Vorboten einer neuen Ära. Die tiefgreifenden Veränderungen in Mode, Moral und Zeitgeist zeugen von stetigem Wandel, und Wissenschaft, Technik und schier unbändiger Erfindungsreichtum geben sich die Klinke in die Hand. Der schließlich im August 1914 ausbrechende Weltenbrand ist für ihn dementsprechend auch in keinster Weise rational erklärbar, sondern schlicht und ergreifend Folge eines immensen Kraftüberschusses der europäischen Nationen. Als glühender Europäer gebärt sich der manisch ausbreitende Nationalismus für ihn als „Erzpest“, und als überzeugter Pazifist steht er, wie viele seiner literarischen Mitstreiter und Freigeister, zwischen den Fronten.

Jener Sommer 1914 wäre auch ohne das Verhängnis, das er über die europäische Erde brachte, uns unvergesslich geblieben. Denn selten habe ich einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher gewesen. Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder mit ihrem jungen Grün.

Er, der alle anderen europäischen Länder von eigenen Reisen und durch viele geschlossene Freundschaften kannte, war unfähig zu verstehen, was nun vor sich ging. Die relative geistige Einheit Europas wurde über Nacht zerschlagen, und es folgten die Jahre der totalen Mobilmachung, schließlich Versailles, Weimar und Hitler. Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erlebt Zweig dann im Londoner Exil, doch da er möglicherweise als „enemy alien“, sprich als feindlich gesinnter Ausländer ausgewiesen hätte werden können, floh er mit seiner Frau nach Südamerika, um sich letztlich in Brasilien niederzulassen.

Am 23. Februar 1942 setzte Zweig seinem Leben durch Gift ein Ende. Die Konsequenz in Denken und Handeln ließ ihm wohl keine andere Wahl, denn sein altes, geliebtes Europa lag auf dem Sterbebett der Geschichte.

„Aber jeder Schatten ist im letzten doch auch Kind des Lichts, und nur wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt.“

 

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