(K)eine Ikone: 1st May 1985
Der Vorfall ist abstoßend und verlangt dem Vorstellungsvermögen einiges ab. Der serbische Bauer Djordje Martinovic aus dem Ort Gnjilane im Kosovo wird am 1. Mai 1985 mit schweren Verletzungen im Anus-Bereich in die örtliche Klinik eingeliefert. Er gibt an, auf seinem Feld von zwei maskierten, albanisch sprechenden Männern überfallen worden zu sein, die ihm eine zerbrochene Flasche rektal einführten, eine vulgäre Reminiszenz an die Strafe des Pfählens, welche die Osmanen an den christlichen Balkanvölkern nicht selten vollzogen. Zwar berichtet die lokale Presse von dem Vorfall, so wie ihn der Bauer schilderte, doch schnell schalten sich staatliche Stellen im damals schon knirschenden Vielvölkerstaat Jugoslawien ein. Diese kommen nach eingehender Vernehmung des Patienten zu dem Ergebnis, das Ganze sei nichts anderes als ein verunglückter Akt von Masturbation gewesen. Wäre da nicht die Medizin. Denn weitere ärztliche Untersuchungen scheinen unabhängig voneinander eine solche Erklärung anhand des Verletzungsbildes auszuschließen. Der Fall bleibt ungelöst und darf die Maifeiern, die im damaligen Jugoslawien immer auch die „Brüderlichkeit und Einheit“ der jugoslawischen Völker beschworen, nicht weiter stören. Viel später wird Martinovic aussagen, das Geständnis einer bizarren Masturbation sei mit Drohungen von ihm erpresst worden.
Der serbische Künstler Miodrag „Mica“ Popovic (1923-1996) hat diesen Fall, der die Spannungen zwischen Serben und Albanern im Kosovo noch einmal an den Siedepunkt brachte vor dem Vergessen bewahrt und damit einen landesweiten Skandal ausgelöst. Sein Bild trägt den Titel „erster Mai 1985“ und ist eine Adaption eines anderen Gemäldes an das Geschehen im Kosovo jener Tage. „Das Martyrium des heiligen Philipp“ aus dem Jahr 1639, gemalt von dem spanischen Barockmaler Jusepe de Ribera stand Pate für Popovic’s Bild und lieferte damit einen hermeneutischen Schlüssel, um das Ungeheuerliche religiös aufzuwerten (Serben verstanden sich als das Märtyrer-Volk des Balkans) und politisch aufzuladen. Das Trauma eines einzelnen wird zum Trauma einer ethnisch-kulturellen Gemeinschaft.
Ein Bild wirkt wie eine Enthüllung, die der verordneten Brüderlichkeits-Idylle Hohn spricht. Und ein Verbrechen reiht sich ein in das Martyrologium der Kirche. Albanisch gekleidete Schergen, ein beaufsichtigender Polizist als Vertreter des Staates und nicht zuletzt die Flasche am unteren Bildrand lassen beim kundigen Betrachter keine Zweifel an der „Lesart“ dieses Werkes. Gerade in diesem Bild verlässt Popovic seine bewusst gewählte Rolle eines passiv betrachtenden Zeugen, der den sozialen Niedergang im Titoismus mit dem Pinsel protokollierte. Er ergreift Partei und demonstriert, unmittelbarer als sonst, die Nähe zu seinem serbischen Volk, dessen verschwiegene Leiden im überwiegend albanisch besiedelten Kosovo er dramatisch bezeugte. Aus sozialkritischer Volksnähe ist eine Nähe zum Völkischen geworden, so halten es ihm regimetreue Kunstkritiker in ihren Kolumnen bissig entgegen. Der Künstler selbst betont dagegen vor allem seine Nähe zur Wahrheit, zur Grundhaltung der Wahrhaftigkeit, die keine Retuschen vertrage und welche zu bezeugen jeder Künstler, quasi stellvertretend für die Masse, das Privileg und die Pflicht hätte.
Plakativ und hintergründig
Mica Popovic galt zu seiner Zeit als innovativer Maler, der dem sozialistischen Ästhetizismus, seiner inhärenten Dogmatik und Hundeleinen-Pädagogik kreativ den Kampf angesagt hatte. Lange hatte er um einen eigenen Stil gerungen. Der junge Kunststudent findet sich nach dem Krieg in einer Intellektuellen WG („Simina Nr.9“) wieder, wo etwa 12 Künstlerinnen und Künstler einen offenen Gedankenaustausch pflegen. Bald schon zieht die Gruppe an die Adriaküste, nach Zadar, lässt sich von der mediterranen Umgebung inspirieren, experimentiert mit verschiedenen Stilen und gerät bald schon in Konflikt mit den offiziellen Studentenvertretungen in Belgrad. Die Gruppe löst sich auf und alle, bis auf Mica Popovic, dürfen an der Universität weiterstudieren. Die existenzielle Unsicherheit, in die der junge Maler damit fällt, wird ihn auf langen Strecken seines Lebens begleiten. Doch sieht er in ihr auch eine anspornende wie schmerzhafte Freiheit. Sein ehemaliger Professor Ivan Tabakovic unterrichtet ihn privat weiter.
In einem serbischen Dorf versucht er mit sich ins Reine zu kommen. Die Fresken der orthodoxen Klöster will er in die Neuzeit „übersetzen“, doch wird er kaum Anleihen bei der Ikonografie der Ostkirche machen. In den 50iger Jahren hält er sich dann in Frankreich auf und begeistert sich für die neue Richtung der „Informel“-Malerei, die seinem rebellischen Charakter entgegenkommt. „Ich entdeckte den Reichtum nicht geformter Materie“ gibt Popovic später an und verweist damit auf das Grundanliegen von „Informel“. Der Rohstoff, d.h. die nackte Materialität des Lebens soll durch Aufbrechen der Formgebung befreit werden. Der Augenblick der Befreiung, nachdem eine alte Form zerstört wurde und noch bevor eine neue Form sich ausbilden kann, soll festgehalten werden. „Informel“ will beides: zerstören und befreien. In fast allen Bildern Popovic‘s spürt man noch die Prägung durch diese Phase. Gestochen Scharfes und Verschwommenes stehen nebeneinander oder gehen ineinander über, keine räumliche Tiefe bietet dem Blick Erholung, die Szenen springen geradezu ins Auge. Unterschwellig ist eine Gewalt spürbar, betont noch durch die dunkle Farbgebung, durch das nervöse Spiel von Licht und Schatten, die nach Besänftigung verlangt. Selbst die Stillleben rufen eine merkwürdige Unruhe hervor. Alles steht vor der Auflösung. Besonders in der „Gvozden-Serie“, welche die heroische Duldsamkeit eines serbischen Gastarbeiters in verschiedenen Varianten darstellen, kommen diese Aspekte zum Vorschein. Niedergang, Auflösung, Demütigung und Verzweiflung assoziiert Popovic vor allem mit dem serbischen Volk, das er als auf vielerlei Weise gefährdet ansieht und darstellt.
Das Kunstwerk als letztes Bollwerk des Volkes
Mica Popovic verortet seine Berufung als Künstler (er tat sich auch als Autor und Filmemacher hervor) immer in der Nähe des Realen, vornehmlich des gesellschaftlich Realen. Das Kunstwerk sei das letzte Bollwerk des Volkes, so meinte er einmal kämpferisch. Kunst sei immer moralisch motiviert und erst in einem zweiten Schritt ästhetisch, so sein Credo. Kunst wirke wie ein Gebet, wenn andere Mittel nicht mehr zur Verfügung stünden. Der Künstler genieße mehr Freiheit, da er die Muße und die Sensibilität habe (bzw. haben müsse), die richtigen Fragen zu stellen. Mit ihnen und ihrer kreativen Verarbeitung befinde er sich bereits auf dem Weg zur Freiheit, den er seinen Zeitgenossen aufzeigen müsse. Freiheit beginnt mit Popovic schon mit dem künstlerischen Experiment, das aus diesem Grund den Machthabern stets ein Dorn im Auge sei und unterbunden werden müsse.
Mica Popovic wird oft in einer Reihe mit serbischen Intellektuellen genannt, denen man im Nachgang der Ereignisse eine geistige Mitschuld an den verheerenden Kriegen im ehemaligen Jugoslawien gegeben hat, Dobrica Cosic, Mihailo Djuric oder Tanasije Mladenovic u.a. gehören in diese Reihung. Kann man aber die Legitimität eines Anliegens rückwirkend in Mithaftung nehmen für Entwicklungen, die niemand intendierte und welche sich in ihrer Drastik aus anderen Quellen speisten? Ist eine säkularisierte Ursünden-Moralität auf künstlerische Dissidenz überhaupt anwendbar? Welche kreative Lebensäußerung stünde da nicht unter Generalverdacht?
Mica Popovic hat wenig von einem Ikonenmaler an sich und doch gestatten seine Werke durchaus den Vergleich. Während in einer orthodoxen Ikone durch die goldene Grundierung die überzeitliche Quelle, gewissermaßen das Urbild, durch das Dargestellte, das Abbild, hindurchscheine, ist in Popovic’s Bildern der Lack des Regimes ab. Nur die Realität bricht sich Bahn und nicht das Ideal. Sie und nur sie, ist die Grundierung von allem. Kein Formzwang wird sie jemals aufhalten.
Weitere Werke des Malers lassen sich hier finden.