Rien ne va plus!
Albert Caraco wollte immer schon sterben. Doch gedachte er zunächst den Tod seiner Eltern abzuwarten, eine Rücksichtnahme, die man in seiner Philosophie sonst kaum wiederfindet. In einem letzten Brief an seinen Verleger soll er angekündigt haben, dass er nach dem bald zu erwartenden Ableben seines Vaters diesem von eigener Hand in den Tod folgen würde. Seine Mutter war bereits verstorben und so stand seinem Suizid am 7. September 1971 in Paris nichts mehr im Wege.
„Das Nichts besitzt für mich einen Zauber, den die Mißgeburten, die diesen Ort bevölkern niemals hätten und haben könnten, ich danke dem Himmel, dass ich hier wohne, die Welt zu verlassen kostet keine Überwindung“
So schreibt er in einer Art Nachwort zu seinem Brevier des Chaos. Aus diesen Zeilen spricht keine letzte Liebeserklärung an Paris, viel eher eine an den Verfall dieser Stadt, den Albert Caraco nicht nur scharfsinnig wie scharfzüngig registrierte, sondern den er als einzig richtigen Gang der Dinge angesehen hatte. In diesem Satz ist auch seine nihilistische Philosophie zusammengefasst, sind seine Obsessionen und Idiosynkrasien angedeutet. Sie kreisen alle um die Unumkehrbarkeit, um die Aporie der Dinge, um eine schicksalhafte, erlösende Katastrophe, die der Angeekelte nicht nur mit bestechender Intuition vorhersah, sondern die er in geradezu nekrophiler Leidenschaft herbeisehnte. Der Tod bleibt der modernen Welt als einziger Erlösungsweg offen, davon war Caraco durchdrungen. Vieles von dem, was er schrieb, klingt in den Ohren von uns Heutigen, als sei es 2020 verfasst worden.
Geboren 1919 im heutigen Istanbul als Sohn wohlhabender sephardischer Juden, kommt Albert Caraco mit seiner Familie über Prag, Berlin, Rio de Janeiro schließlich nach Uruguay, wo er die uruguayische Staatsbürgerschaft annimmt. 1946 kehrt die Familie wieder nach Paris zurück. Am Arbeitsleben nimmt Caraco, trotz kaufmännischer Ausbildung, kaum teil. In seine Privat-Klausur zurückgezogen, gibt er sich seinem wirren wie herausragenden Denken hin, dessen Kompendium im Brevier des Chaos vorliegt.
Brevier nennt man das Stundenbuch für den römisch-katholischen Weltklerus, das regelmäßig zu beten ist. Wie im Mönchtum, sollen die Stunden des Tages im Gebet Gott geweiht werden. Gott wiederum lässt den Geistlichen in diesen Momenten aus dem Gang des profanen Lebens heraustreten und stellt das Tagwerk in seinen überweltlichen Horizont
Wenn Albert Caraco sein Werk nun Brevier nennt (einmal nennt er es auch Manifest), dann verleiht er ihm explizit eine geistliche Weihe und eine daraus abgeleitete Autorität. Nicht umsonst und nicht ohne Eitelkeit wird er sich an einer Stelle als ungehörten Propheten bezeichnen, der nur für eine verschwindende Minderheit Auserwählter schreibe, die sich von ihrer Umwelt abzuheben hätte.
Gleichwohl hat Ulrich Horstmann 1987 in seiner Rezension in der ZEIT, bei sonstiger Geistesverwandtschaft, vor einem Nachbeten gewarnt, denn das, was Caraco dort in Abschnitten ohne Überschrift oder thematische Anordnung enthüllt, ist ein Amoklauf in Gedanken. Und eines der ersten Opfer ist, neben den geistesgeschichtlichen Illusionen, die politische Korrektheit.
Mensch oder Masse
Menschsein hat Konsequenzen. Die Weichenstellungen des menschlichen Daseins, insbesondere zu Beginn der Moderne, lenken den Fortschritts-Zug fahrplanmäßig in Richtung Abgrund. Albert Caraco reiht sich damit bei den Zivilisationskritikern ein, vor allem in die Untergruppe der Lebensskeptiker, die mit Schopenhauer anhebt und im Fortgang immer rabiater wird, um mit Lautréamont (ebenfalls aus Uruguay), Philipp Mainländer oder auch H. P. Lovecraft zu enden. Die Dynamiken, die der Mensch freisetzt, tragen in sich immer die Aggressionen, denen er zukünftig nicht mehr Herr werden wird. Das gilt auch für die Dynamiken von Heilsversprechen jeder Couleur. Besonders ihnen gilt die erbitterte Feindschaft Caracos. Denn Menschsein beginnt für ihn dort, wo ein Erwachen in die monströse Realität aller Dinge, auch der geistigen, geschieht. Vor diesem Aufwachen bewahren die Sachwalter jedes Glaubens. Mögen sich die Anfänge auch verheißungsvoll ausnehmen, in der zeitlichen Entfaltung „beginnen die Gedanken, mit denen man spielte, mit den Menschen zu spielen“, so der Autor ganz in nietzscheanischem Stil. Das Unheil beginnt mit dem Aufkommen von Glaubensbewegungen, die niemals eine grundsätzliche Umkehr einleiten könnten, da sie in ihrer Lebensbejahung auch die Folgen des Lebens bejahten und die heißen für Caraco: Zerstörung der Erde durch Vermassung, Überbevölkerung und Verstädterung. In diesem Zusammenhang stößt er Sätze wie Flüche aus:
„Sind das Menschen? Nein. Die Masse der Verdammten setzt sich nie aus Menschen zusammen, denn der Mensch beginnt erst von dem Augenblick an, wo die Menge zum Grab der Menschheit wird“
Ein Satz wie eine Springmine im Garten der Political Correctness. Neben den trance-artigen Invectiven prägt er zuweilen auch sublimere Bilder wie dieses, das uns im beschworenen Klimawandel unserer Tage bekannt vorkommen dürfte:
„Das Sterben des Bodens ist der Schatten, den die Städte von weitem werfen“
Die Masse setzt sich für Caraco nur aus Termiten oder generell aus Insekten zusammen. Menschliche Eigenschaften spricht er ihr ab, ebenso wie dem System, das sich dank menschlichem Zutun etabliert hat und aus dem die Masse in immanenter Logik hervorgegangen ist. Es gibt kein Heil, weil ein vermeintliches Heil selbst wieder dem System entstammen und es damit fortsetzen würde. Die schiere Anzahl der zu Heilenden stünde ihm entgegen. Caraco schreibt:
„Das Leben ist von dem Augenblick an nicht mehr heilig, wo die Lebenden überhandnehmen“
Die Chance zur Menschwerdung wird in ferner Zukunft nur noch ein kleiner Rest haben, der die kommende Katastrophe überleben wird. Auf der dann weitgehend entvölkerten Erde sieht er eine neue Ordnung erstehen, die vor dem Auftreten der etablierten Religionen bereits einmal bestanden hatte: das Matriarchat. Allein dem weiblichen Prinzip traut er zu, eine radikale Neuausrichtung des Lebens zu vollziehen. Hier findet man die einzigen positiven Akzente in seinem Werk, man liest sie wie eine Atempause zwischen den Einschlägen. An der vorausgehenden Katastrophe kommt man jedoch nicht vorbei.
Das Prinzip Hoffnungslosigkeit
Die Eschatologie von Albert Caraco ist ganz von der nahenden Katastrophe geprägt. Das Chaos ist in der Rolle des erwarteten Messias, der Tod in der einer Gottheit. Dem erschrockenen Leser ruft er zu:
„Das Heilmittel ist grausam, die Krankheit ist es noch mehr“
So luzide er die Problematik rund um die Überbevölkerung benannt hat, selbst um den Preis eines kaum zu überhörenden rassistischen Untertons, so vage bleibt er in der Beschreibung der entscheidenden Katastrophe. Ihr Rang ist bei Caraco mit dem des Reiches Gottes aus den Evangelien vergleichbar. In sie setzt er seine sado-masochistischen Hoffnungen auf das Ende einer Welt, die ihn abstieß und die den Menschen, auch den denkenden, entmenschlichte bzw. entmenschlichen musste. Der Tod gilt ihm als unparteiischer Objektivierer, für den der Mensch nichts anderes als „ein Ding“ unter vielen anderen sei. Ihm mochte er sich eher anvertrauen, als einem persönlichen Gott, den er in gnostischer Manier einzig auf der Grundlage seiner Schöpfung beurteilen wollte. Da diese gründlich missraten sei bzw. nach Lage der Dinge missraten musste, konnte er allenfalls von einem abgrundtief bösen Gott ausgehen. Der Tod würde ihn auch von ihm befreien.
Albert Caraco hat eine Vorliebe für alles, was den Menschen in die Einsamkeit drängt und ihn dort belässt. In dieser Einsamkeit befindet man sich in einer bunten Gesellschaft von Onanisten oder Homosexuellen, von Anarchisten, Unangepassten und allerlei anderer Sünder wider die Menschheitsgesellschaft. Ihnen singt er am Ende seines Breviers im Stil der Bergpredigt das Lob und flößt ihnen auf seine Art Mut ein:
„Der Himmel ist leer, und ihr werdet Waisen sein, um als freie Menschen zu leben und zu sterben“
Albert Caraco, Brevier des Chaos, Berlin 1986. Hier erhältlich.