Das Unsichtbare Komitee: Radikale Fortschrittskritik

Das Unsichtbare Komitee (UK) ist eine Vereinigung von französischen, vorwiegend jungen Kulturkritikern und Kulturrevolutionären, deren Theorien an die der Situationistischen Internationale (S.I.) anknüpfen. Diese wiederum war eine westeuropäische Gruppierung zunächst von Künstlern, die sich Mitte der fünfziger Jahre zusammengeschlossen hatten, um eine neue Form von Kunst und Kultur aus der Taufe zu heben. Sie lösten sich mehr und mehr von ihrer Beschränkung auf diese Sphäre, als sie erkannten, daß eine befreite Kunst nur durch einen Umsturz der gesamten kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen ist:

„Gegen das Spektakel führt die verwirklichte situationistische Kultur die totale Beteiligung ein. Gegen die konservierte Kunst ist sie eine Organisation des erlebten Augenblicks – ganz direkt.“

Aus dem Manifest, 1960

In ihren Schriften verarbeiteten die Vorläufer des Unsichtbaren Komitees, die Situationistischen Internationale, Theorien des Surrealismus, des Dadaismus und auch des Marxismus. Eine Schlüsselschrift ist Henri Lefèbvres „Kritik des Alltagslebens“ von 1968. Die führenden Köpfe der Bewegung waren der französische Philosoph Guy Debord, von dem die große kultur- und zivilisationskritische Programmschrift „Die Gesellschaft des Spektakels“ (1967) stammt, der belgische Existenzialist Raoul Vaneigem („The revolution of  everyday life“, 1950) und der dänische Künstler Asger Jorn. Die S.I. löste sich im Zuge der Studentenbewegung 1972 auf. Ihre Texte sind in deutscher Sprache auf www.si-revue.de nachzulesen.

„Der kommende Aufstand“

Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, erschienen in der Edition Nautilus.

Das Unsichtbare Komitee (UK), ist in der Öffentlichkeit zum ersten Mal im Jahr 2007 mit seiner Flugschrift „Der kommende Aufstand“ in Erscheinung getreten. Das anarchistische Moment, das bereits bei den Situationisten durchschimmerte, wird in dieser Schrift noch deutlich erhöht. Darüber hinaus bezieht es sich auch konkret auf Marx und Hegel, aber auch auf konservative Autoren wie Bloy, Nietzsche, Heidegger, Le Bon, Dávila, Cioran, Pessoa u.a. Es ist hier nicht der Platz, die gesamte Theorie resp. Ideologie des in den Medien als linksradikal bezeichneten Zusammenschlusses darzustellen, die auf Inbesitznahme von lokalen Territorien und Aufbau von Kommunen hinausläuft.  Ich beschränke mich daher auf einen Ausschnitt aus ihrer Theorie, der für uns heute von Bedeutung ist, die Urbanismus-Kritik, welche die Traditionslinie des situationistischen Konzepts des „unitären Urbanismus“ fortführt. Gleichzeitig verdeutlicht seine Ausleuchtung, wie viel in der Zwischenzeit an theoretischer Höhe verloren wurde – sowohl in der deutschen Linken speziell, als auch im intellektuellen Leben Deutschlands generell.

Radikale Kulturkritik der Gegenwart müßte der zentrale Ausgangspunkt für mehrheitsfähige Entwürfe von aus der jetzigen zivilisatorischen Sackgasse herausführenden Lebensweisen und Gesellschaftsformen sein. Sie findet aber in Deutschland – mit Ausnahme einiger Versuche – nicht statt. Eine Ausnahme aus linker Weltsicht stellte das Forschungsprojekt der „Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus und Wirklichkeitsprüfung“ dar, die von 1986 bis 2016 unter ausdrücklichen Bezug auf die Schrift „Gesellschaft des Spektakels“ unsere Alltagskultur kritisch analysierte. Sie stellte ihre Arbeit ein, als ihre „Empörungsbereitschaft stark nachgelassen“ hatte, weil ihrer Auffassung nach der europäische Drift nach rechts nicht mehr aufzuhalten sei. Die Logik dahinter ist wohl, daß es heute darum gehe zu verteidigen, was man hat, und nicht am Bestand herumzukritteln. Die Analysen der BOAG aber bleiben lesenswert.

Das UK teilt in ihren poetisch-essayistischen Texten nach linker und rechter Seite gleichermaßen aus. Es führt dem Leser scheinbar Selbstverständliches als Bedingtes, Veränderliches vor Augen. Vertrautes wird fremd. Ich würde die Darstellungsform dieser französischen Intellektuellen als „phänomenologisch-spekulativ“ bezeichnen und versuche, sie in ihrer inneren Logik, so wie ich sie verstehe, wiederzugeben.

Gegen die Entfremdung

Das UK geht davon aus, daß die Großstadt im spätkapitalistischen Gesellschaftssystem der Inbegriff der Abgrenzung, Entfremdung und Separation ist. Ihre Bewohner sind von Vergangenheit und Gemeinschaftlichkeit gleichermaßen abgetrennt. Sie erfahren in nicht abgemilderter Form die drei grundlegenden Koordinaten des Daseins: Endlichkeit, Einsamkeit und Geworfensein. Die Großstadt lehrt uns, inwiefern der Verlust der Erfahrung und der Verlust der Gemeinschaft zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.

Im Schoße des Spektakels, und also der Großstadt, machen die Menschen niemals die Erfahrung konkreter Ereignisse, sondern lediglich die von Übereinkünften, von Regeln, von einer gänzlich symbolhaften und konstruierten Zweitnatur.“

Großstädte unterscheiden sich von allen anderen großen menschlichen Ballungsformen vor allem dadurch, daß in ihnen die allergrößte Nähe, und oft auch die allergrößte Promiskuität, mit der größtmöglichen Entfremdung zusammenfällt. Nie zuvor sind die Menschen in so großer Zahl vereint, doch nie zuvor auch waren sie in solchem Maße voneinander getrennt gewesen. Je zurückgezogener die Menschen leben, desto mehr ähneln sie sich, je mehr sie sich ähneln, desto mehr hassen sie sich, und je mehr sie sich hassen, desto mehr ziehen sie sich zurück. Und sobald die Menschen nicht mehr begreifen, daß sie alle an der Errichtung einer gemeinsamen Welt beteiligt sind, entsteht eine Kettenreaktion, ein Bruch in der Gemeinschaft, und man geht zur Fetischisierung der kleinen Unterschiede über.

Seit geraumer Zeit findet eine Verwandlung der ursprünglichen Städte in Metropolen statt. In diesen verschwindet der archaische Unterschied zwischen Stadt und Land zugunsten einer Synthese des gesamten Territoriums. Durch das Maschenwerk der Netze wohnt hier alles zusammen. Die Metropole ist ein Fluß von Wesen und Dingen, Strom von Kabeln, Strecken, Satelliten, Röhren, Kameras mit dem Ziel der Mobilisierung aller Menschen (Warten wird nun zu einer schwierigen „Tätigkeit“). Diese Mobilität bedeutet Herausreißen, Isolation, Exil, Geschwindigkeit, ununterbrochene Bewegung. Sie ist nur erträglich, wenn sich die private Blase mit in Bewegung setzt. Bahnhof, Einkaufszentrum, Geschäftsbank, Hotel: überall dieselbe so banale, derartig bekannte Fremdheit, dass sie die Stelle der äußersten Vertrautheit annimmt. Gymnasium, Krankenhaus, Ärztehaus sind Variationen desselben Themas: Transparenz, Neutralität, Uniformität, wuchtige und fließende Gebäude, die entworfen wurden, ohne wissen zu müssen, was sie beherbergen werden, die hier oder woanders stehen könnten. Stadtteile bzw. Metropolenbereiche bieten Stimmungen feil, unter denen wir auswählen nach Art eines existenziellen Shoppings zwischen den Stilen von Bars, Leuten, Design, Playlists.

Um die Uniformität der Umgebung zu überleben, ist die einzige Option, sich unaufhörlich seine innere Welt zu rekonstruieren – wie ein Kind, das überall die gleiche Hütte wieder aufbauen würde.

Die »Entwurzelungskrankheit«

Das Weltterritorium wird versiegelt. Metropolen sind Nicht-Orte, urbane Flächen ohne Form und Ordnung, trostlose, unbestimmte, unbegrenzte Zonen aus musealen Hyperzentren, die dem Tourismus und dem Konsum anheimfallen, Naturparks, Großanlagen, riesigen landwirtschaftlichen Betrieben, Industriegebieten und Siedlungen für Einwohner und Urlauber. Sie sind Räume maximaler Kontrolle. „Authentische“ Arbeiterviertel werden in ihnen vom Mittelstand kolonisiert, ihr Klientel an die Peripherie vertrieben. „Im Maschenwerk der Metropolen gefangen bleiben wohl einige Fragmente Stadt und ein paar Reste Land übrig. Aber das Lebendige, das hat in den sog. sozialen Brennpunkten Quartier bezogen. Das Paradox will, dass die Orte, die am offensichtlichsten unbewohnbar sind, als einzige noch auf gewisse Weise bewohnt werden.“ Elendsviertel sind die lebendigsten und tödlichsten. Metropolen sind das Terrain eines andauernden Konflikts niedriger Intensität; sie sind mit dem Krieg kompatibel. Der bewaffnete Konflikt ist nur ein Moment ihrer ständigen Umgestaltung. Interventionen des Apparats zielen nicht auf Sieg oder Ruhe und Ordnung, sondern auf Fortsetzung eines Sekuritationsunternehmens („sécurisation“), das auf Dauer angelegt ist.

Die anhaltende Zerstörung aller geschichtlichen Rückbindung und aller gewachsenen Gemeinschaftlichkeit sind allerdings kein konjunkturell bedingtes Gebrechen der marktwirtschaftlichen Gesellschaft, dessen Beseitigung durch einfache Reformen in der Macht der Menschen stünde.

Die Entwurzelung aller Dinge, die Aufspaltung jeder lebendigen Gesamtheit in sterile Bruchstücke und deren Verselbständigung nach dem Eintritt in den Kapitalkreislauf sind der Ware wesentlich inhärent, sie sind das Alpha und das Omega ihrer Beweglichkeit. Der höchst ansteckende Charakter dieser abstrakten Logik nimmt bei den Menschen die Form einer regelrechten »Entwurzelungskrankheit« an, die die Entwurzelten zu einer hektischen Aktivität veranlaßt, mit dem Ziel, anhand oft äußerst gewaltsamer Methoden einen immer größeren Anteil auch jener zu entwurzeln, die es noch nicht oder nur teilweise sind; wer entwurzelt ist, entwurzelt. Unserer Epoche gebührt der zweifelhafte Ruhm, die wuchernde und massenhaft verbreitete Fiebrigkeit dieses »destruktiven Charakters« bis zum Äußersten gesteigert zu haben.“

Die Metropole als Architektur von Flüssen ist flexibel, subtil, aber verletzbar; sie produziert die Mittel zur eigenen Zerstörung „Damit inmitten der Metropole etwas entstehen kann, damit sich andere Möglichkeiten eröffnen, ist die erste Geste, ihr perpetuum mobile zu stoppen.“ Somit verkörpert die Metropole zugleich den vollständigen Verlust der Gemeinschaft und die bis zuletzt bestehende Möglichkeit, sie zurückzugewinnen. Dem Unsichtbaren Komitee und ihren Verbündeten kommt es ihres Erachtens denn auch zu, zum ersten Mal die Erfahrung einer wahrhaften Gemeinschaft zu machen, jener Gemeinschaft, die nur Bestand hat, weil sie die Abtrennung, das Ausgesetztsein und die Endlichkeit auf sich lädt.

„In seiner Totalität erfasst, ist das Spektakel zugleich Ergebnis und Projekt der bestehenden Produktionsweise. Es ist keine Ergänzung der realen Welt, ihr hinzugefügter Dekor. Es ist das Herz des Irrealismus der realen Gesellschaft. In all seinen besonderen Formen, Informationen oder Propaganda, Werbung oder unmittelbarer Konsum von Ablenkungen, bildet das Spektakel das gegenwärtige Modell des gesellschaftlich herrschenden Lebens. Es ist die allgegenwärtige Bestätigung der bereits getroffenen Wahl in der Produktion und dem aus ihr folgenden Konsum. Form und Inhalt des Spektakels sind identisch die totale Rechtfertigung der Bedingungen und der Ziele des bestehenden Systems. Das Spektakel ist auch die fortwährende Gegenwärtigkeit dieser Rechtfertigung, indem es den hauptsächlichen Teil der außerhalb der modernen Produktion gelebten Zeit einnimmt.“ „Alles, was unmittelbar erlebt wurde, hat sich in einer Repräsentation entfernt.“

Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels

Ausblick

Kritik städtischen Lebens ist nichts Neues. Diesen oder jenen Gedanken hat man bereits in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts geäußert. Doch einen solchen Rundumschlag auf der Höhe unserer Zeit lohnt es m.E. dennoch vorzustellen – zumal man dabei sieht, daß in Sachen Kulturkritik „Linke“ und „Konservative“ durchaus an einem Strang ziehen können.

Doch wie steht es um das Unsichtbare Komitee heute? Was hat die so offensiv auftretende Gruppe hinterlassen? Konnten Sie eine Struktur ausbauen? Dazu mehr im nächsten Teil.

Literatur:

Das Unsichtbare Komitee: Theorie vom Bloom, in: Tiqqun.

Das Unsichtbare Komitee: Der kommende Aufstand.

 

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