Das All im Gedicht – Über Dantes ‚Commedia‘

Der Name Dante Alighieri thront über der europäischen Literaturgeschichte. Mit seiner ,Göttlichen Komödie‘ schuf Dante etwas Unvergleichbares, das bis heute fasziniert. Der 700. Todestag des Italieners bietet somit einen festlichen Anlass für die erneute Exegese der Originalfassung seiner berühmtesten Dichtung. Markus Schürer zeigt, welches geistige Universum uns die Lektüre trotz historischer Distanz noch heute eröffnen kann.

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„On ne lit plus le Dante dans l’Europe, parce que tout y est allusion à des faits ignorés.” Voltaire, Lettres philosophiques ou lettres anglaises, XXII (1756).

Im Jahr 1803 veröffentlichte der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling eine kurze Abhandlung mit dem Titel ‚Ueber Dante in philosophischer Beziehung‘. Dort führte er aus, die ‚Commedia‘ des Dante Alighieri sei „eine ganz eigenthümliche, gleichsam organische, durch keine willkürliche Kunst wieder hervorzubringende Mischung […], ein absolutes Individuum, nichts anderem und nur sich selbst vergleichbar.“ Sie sei „nicht dramatisch, nicht episch, nicht lyrisch“, sondern führe die drei grundlegenden Arten dichterischen Gestaltens auf eigene, beispiellose Weise zusammen und bilde daher „selbst eine Gattung für sich“. Mit dieser Einschätzung traf Schelling einen wesentlichen Punkt: Tatsächlich orientierte sich Dante, als er seine ‚Commedia‘ dichtete, nicht an irgendeinem herkömmlichen literarischen Gattungsmuster. Er schuf etwas, das es so noch nicht gegeben hatte. Die ‚Commedia‘ ihrerseits wiederum entfaltete keinerlei gattungsbildende Wirkung. Nichts kam nach ihr, was ihr irgendwie ähnlich gewesen wäre. Zweifellos fließen in ihr unzählige Stoffe, Motive, Erzähltraditionen zusammen, sie bietet viele etablierte poetische und rhetorische Verfahren auf und regt bis in unsere Gegenwart Werke in Literatur, bildender Kunst, Musik oder Film an. Dennoch – einzigartig, einem überragenden Solitär gleich, steht sie in der Geschichte der lateineuropäischen Literatur.

Angesichts dessen erscheint es nicht einfach, dieses Werk auf einen Begriff zu bringen. Man könnte, um sich zu orientieren, zunächst seinen eigentümlich schlichten Titel befragen. ‚Commedia‘ (als ‚Divina Commedia‘ – ‚Göttliche Komödie‘ –, wurde es erst später, nach dem Tod seines Autors, bezeichnet) gibt allerdings wenig Aufschluss. Weder hat man es gattungsmäßig mit einer Komödie zu tun, noch sind Komik oder gar Heiterkeit das, was das Wesen dieses Textes ausmacht. Vielleicht ist es am zweckmäßigsten, die ‚Commedia‘ zunächst einmal als die Schilderung einer Wanderung oder Reise zu nehmen, die durch die drei Reiche des christlichen Jenseits – Hölle (Inferno), Läuterungsberg (Purgatorio) und Paradies (Paradiso) – führt. Im Werk selbst wird diese Reise zeitlich genau bestimmt: Sie beginnt am Karfreitag des Jahres 1300 und dauert eine Woche. Derjenige, den der Autor auf die Reise schickt, ist ein Ich-Erzähler. An einer einzigen Stelle der ‚Commedia‘ wird dieser Ich-Erzähler mit dem Namen Dante angesprochen, und zwar von Beatrice, einer der Figuren, die ihn durch das Jenseits führen (Pur. 30, 55). Wir könnten, ausgehend von dieser Beobachtung, die Frage stellen, ob man es bei der ‚Commedia‘ mit einem autofiktionalen Text zu tun hat. Das zu entscheiden, überlassen wir zünftigen Literaturwissenschaftlern, halten aber fest, dass Dante, der Autor, und Dante, der Erzähler – der wiederum aus der Rückschau seine Erlebnisse als Dante, der Wanderer, schildert –, nicht identisch sind. Was allerdings nicht ausschließt, dass sich der Autor auf vielerlei Weise im Erzähler spiegelt und beide einander stellenweise sehr nahe kommen. Vor allem bei jenen Textpassagen fallen Autor- und Erzählerstimme mehr oder weniger ineins, wo das zerbrochene Verhältnis Dantes zu seiner Vaterstadt Florenz verhandelt wird.

Florenz ist in der ‚Commedia‘ und zumal im ‚Inferno‘ sehr präsent. Für den Dichter, der 1265 im Sternzeichen der Zwillinge dort geboren wurde, ist sie beides – Sehnsuchtsort und verworfene Stadt. Dante führte in Florenz zunächst ein vielversprechendes ‚Doppelleben‘: Einem Kreis von Literaten angehörend, in dem sein Freund Guido Cavalcanti den Ton angab, verfertigte er Gedichte, anfänglich eher epigonal, zunehmend jedoch mit eigenem poetischem Profil. Zugleich betätigte er sich als Lokalpolitiker und begann eine Laufbahn, die ihn in leitende Ämter seiner Vaterstadt führte. Um die Jahreswende 1301 / 1302 allerdings fand dieser Lebensentwurf ein jähes Ende, herbeigeführt durch eine gewaltsame Eskalation politischer Konflikte in der Stadt, bei der die politische Gruppierung, der Dante angehörte, unterlag. Die Folgen für ihn waren dramatisch: Im März 1302 wurde er von den Anführern der siegreichen Partei in Abwesenheit – er befand sich während der Auseinandersetzungen nicht in der Stadt – zum Tod durch Verbrennen verurteilt. De facto bedeutete dies für Dante die Expatriierung, die Verbannung aus der Heimat. Zeitlebens blieb ihm der Weg zurück nach Florenz versperrt. Ohne die Vaterstadt, nach der er sich sehnte, die er nun aber auch zu hassen lernte, je wiederzusehen, führte er fortan das unstete, prekäre Wanderleben eines Vertriebenen. Zu Stationen seines Lebensweges wurden Lucca, Forlì, Treviso, Padua und Venedig; mehrfach fand er Aufnahme am Hof des Cangrande della Scala in Verona; zuletzt weilte er bei Guido Novello da Polenta, dem Stadtherrn von Ravenna, wo er am 14. September 1321 starb.

Für Dante war die Verbannung, die ihm mit knapp 37 Jahren, auf der Höhe seines Lebens, widerfuhr, zunächst ein kaum zu bewältigender Verlust. Indem er seine Familie verlor (sie musste in Florenz zurückbleiben), auch Freunde, sein Vermögen, seinen gesellschaftlichen Status, seine Ehre, kam ihm gleichsam sein eigenes Dasein abhanden. Und doch scheint diese Lebenszäsur noch eine andere Seite gehabt zu haben. Karlheinz Stierle, einer der bedeutenden Dante-Exegeten unserer Zeit, hat die These entworfen, nach der sie ein Schnitt mit zweierlei Bedeutung war: Zweifellos stellte sie eine existenzielle Katastrophe dar; aber sie dürfte auch das Ereignis gewesen sein, das Dantes dichterische Berufung mit letzter Konsequenz freisetzte. Wäre Dante nicht vertrieben worden, hätte er es wohl zu einem führenden Lokalpolitiker und einem Literaten von regionaler Bedeutung gebracht. So aber wurde er, wenngleich entwurzelt und unbehaust, frei für die rückhaltlose dichterische Existenz. Die Dichtung aber wurde für Dante zu einem Mittel, sich angesichts seines zerbrochenen Daseins und einer ungewiss gewordenen Welt selbst zu behaupten; die ‚Commedia‘ war das Werk, mit dem er sich des Sinns seines eigenen Lebens und der Welt zu versichern suchte. Um 1304 dürfte er die Arbeit am ‚Inferno‘ begonnen haben, 1312 oder 1313 nahm er das ‚Purgatorio‘ in Angriff, und etwa seit 1315 schrieb er am ‚Paradiso‘. 1321, kurz vor seinem Tod, vollendete er die ‚Commedia‘.

Die ‚Commedia‘ ist also die Erzählung einer Jenseitsreise, aber auch ein Buch des Exils, in dem immer wieder die verlorene Heimat – Florenz – zum Thema gemacht wird. So kommt es, dass aus dem Jenseits heraus permanent der Bezug zur irdischen Welt hergestellt wird, das Diesseits im Jenseits präsent bleibt. Der erzählerische Kunstgriff, mit dem Dante, der Autor, dies bewerkstelligt, ist die Begegnung. Die Reise nämlich, die Dante, der Wanderer, macht, führt zu allerlei Begegnungen mit vielen verschiedenen im Jenseits weilenden Seelen. Diese Begegnungen ihrerseits wiederum werden zum Ausgangspunkt für unzählige Binnenerzählungen, Exkurse und Abschweifungen, Gespräche und Zwischenreden. Mit ihnen wird Dante, dem Erzähler, und anderen Figuren der ‚Commedia‘ Gelegenheit gegeben, über die politischen Verhältnisse ihrer Zeit zu räsonieren, politische Akteure, darunter Päpste und Kaiser, zu loben oder zu tadeln und Invektiven, auch wüste Beschimpfungen oder gar Verwünschungen in Richtung politischer Widersacher zu formulieren.

Doch damit nicht genug: Der Wanderer Dante hat, es wurde schon angesprochen, mehrere Begleiter, die ihn durchs Jenseits führen. Da wäre zunächst der Dichter Vergil, der Dante in die Hölle hinab und hinauf auf den Gipfel des Läuterungsberges bis an die Schwelle zum Irdischen Paradies führt, wobei er ihm ein weiser und wissender, die menschliche Vernunft verkörpernder Gefährte ist. Da Vergil Heide ist, darf er nicht ins Irdische Paradies eintreten. Dantes Führung übernimmt von diesem Punkt an Beatrice, eine Frauenfigur, die zwischen idealer Geliebter, strenger moralisch-religiöser Autorität und Allegorie der Theologie changiert. Sie geleitet Dante hinauf ins Himmlische Paradies. Durch die allerhöchsten Höhen des Himmlischen Paradieses schließlich wird Dante vom heiligen Bernhard von Clairvaux geführt. Vor allem Vergil und Beatrice sind es, mit denen der unablässig fragende und um Erkenntnis und Vergewisserung ringende Dante Probleme erörtert, die weit über die politische Sphäre hinausgehen. Es handelt sich dabei um Betrachtungen philosophischer, theologischer, sternenkundlicher oder heilsgeschichtlicher Natur, um Mutmaßungen über Schuld und Vergebung, Gnade und Verdienst, auch über den Sinn und die Möglichkeiten des menschlichen Lebens, um Ausführungen zu Schöpfung, Welt und Kosmos. So wird die ‚Commedia‘ letztlich zu einem groß angelegten Weltentwurf, der, stellenweise enzyklopädische Züge annehmend, die verschiedenartigsten Dinge, Inhalte und Formen zusammenführt. Eine Folge davon ist, dass die ‚Commedia‘ zu einer Art Gattungskreuzung wird, eben zur „Mischung“, als die der eingangs zitierte Schelling sie bezeichnete.

Im Übrigen war Schelling nicht der einzige, auf den die ‚Commedia‘ ihrer Hybridität wegen eine große Faszination ausübte. Ähnlich wie ihm erging es verschiedenen Protagonisten der literarischen Romantik, allen voran den Brüdern Friedrich und August Wilhelm Schlegel. Für sie, die die Aufhebung literarischer und überhaupt künstlerischer Gattungsgrenzen zum Programm erhoben, hatte die ‚Commedia‘ den Reiz des Modernen, um nicht zu sagen des Avantgardistischen. Friedrich Schlegel (der im Herbst 1799 in Jena gemeinsam mit Schelling die ‚Commedia‘ las und versuchsweise die eine oder andere Terzine übersetzte) nannte in seinem 1800 in der so kurzlebigen wie bedeutenden Zeitschrift ‚Athenaeum‘ erschienenen ‚Gespräch über die Poesie‘ Dante den „heiligen Stifter und Vater der modernen Poesie“. Sein Bruder August Wilhelm wiederum statuierte in seiner in den Jahren 1802 und 1803 in Berlin gehaltenen Vorlesung über die Geschichte der romantischen Literatur, „Dantes Werk“ sei „vorbildlich und prophetisch“ für die „Entwicklung der romantischen Poesie“, Dante selbst „einer von den riesenhaften Schatten der Vorwelt, für die es jetzt an der Zeit ist, wieder aufzuerstehen.“

Vielleicht geht man nicht zu weit, wenn man die ‚Commedia‘ als ‚monstrum‘ beschreibt, wobei das lateinische Wort hier in der ganzen Bandbreite seiner Bedeutungen verstanden sein will: Die ‚Commedia‘ hat etwas Maßloses, Ungeheures, zuweilen Bizarres oder gar Abscheuliches, aber auch etwas Seltsam-Unglaubliches, Wundersames, Betörendes. Von verstörender Grausamkeit sind nicht wenige der Szenen, die Dante – und mit ihm der Leser – im Inferno beobachtet. Man denke etwa an Graf Ugolino und Erzbischof Ruggieri, deren Leiber festgefroren im ewigen Eis des neunten Höllenkreises stecken, wobei der Graf, getrieben von nie endendem Hass und Rachedurst, unausgesetzt am blutigen Hinterkopf des Erzbischofs nagt (Inf. 32, 124-132). Heiterkeit und Frische, Erhabenheit und Erlösung fühlbar macht hingegen die grandios-freudige Schilderung von Dantes und Vergils Heraustreten aus dem Erdinnern, nachdem sie das Durchwandern der Hölle überstanden haben. Hier erblicken sie den „dolce color d’orïental zaffiro“, die „freundliche Farbe des Saphirs aus dem Osten, die sich im heiteren Anblick der Luft zum Horizont hin rein versammelte“ (Pur. 1, 13-15; ich zitiere hier und an anderen Stellen die Prosaübertragung von Hartmut Köhler). Und schließlich gibt es auch die ganz unpathetischen, schlichten Figuren mit ihren Gesten von rührender Anschaulichkeit. Da wäre beispielsweise Dantes Freund Belacqua, der am Fuße des Läuterungsberges hockt, die Arme um die Knie geschlungen, den Kopf dazwischengesteckt. Ein Muster an Passivität und Resignation, kommentiert er mit trägen Gesten und knappen Worten ironisch Dantes emsiges Verlangen, den Läuterungsberg zu besteigen. So wie er in seinem irdischen Leben die guten Vorsätze immer aufschob, so geht er auch jetzt, in seiner postmortalen, jenseitigen Existenz, mit deutlich gebremstem Eifer an seinen Aufstieg und die Reinigung seiner Seele, die ihm den Eintritt ins Paradies ermöglichen wird. (Pur. 4, 97-135) Belacqua, der komisch-sympathische Bummelant, wurde bekanntlich zum Vorbild für einige Figuren aus dem erzählerischen Kosmos von Samuel Beckett. Er könnte aber gut auch als ein Oblomow des 14. Jahrhunderts durchgehen.

In einem gewissen Kontrast zum Hybriden, Überbordenden, Exzessiven stehen die sprachästhetische Souveränität und der extrem strenge Formwille, mit dem der Autor die Textmaterien traktiert und ihnen Maß und Zahl auferlegt: Die ‚Commedia‘ besteht aus drei gleich dimensionierten Teilen (cantiche), dem Inferno, Purgatorio und Paradiso. Sie umfassen jeweils 33 Gesänge (canti). Damit ist dem Werk die Drei, die die christliche Idee der Trinität symbolisiert, fest eingeschrieben. Es ist dies nur einer von vielen Aspekten der christlichen Zahlensymbolik, die die ‚Commedia‘ durchziehen. Dem Inferno ist ein zusätzlicher, einleitender canto vorangestellt; demnach umfasst das Werk 100 Gesänge von annähernd gleicher Länge. Die Strophenform, die den canti zugrunde liegt, ist die Terzine, der Dreizeiler, bei dem sich der erste und der dritte Vers einer Strophe reimen, während der zweite, mittlere Vers reimlos bleibt, jedoch den Reim für den ersten und dritten Vers der jeweils folgenden Strophe vorgibt. Dabei entsteht das Reimschema aba – bcb – cdc etc. und somit eine Verkettung, die die Geschlossenheit der Strophen zugunsten eines eigentümlichen Fließens und Gleitens der Sprache aufbricht. Die Versform, deren Dante sich bedient, ist der Endecasillabo, der Elfsilbler mit weiblichem (also unbetontem) Versschluss.

All jenen Lesern, denen das Italienische nicht geläufig ist und die somit auf eine Übertragung der ‚Commedia‘ angewiesen sind, wird sich die einzigartige Sprachmächtigkeit Dantes nur bedingt erschließen. Der Klang und die Sinnkonstellationen der Reime, die Rhythmik der Verse, die Entsprechung von Lautmalerei und Textinhalt, Dantes kühne Neologismen – all das lässt sich kaum oder überhaupt nicht von einer Sprache in die andere übersetzen. Der vom Deutschen her kommende Leser kann immerhin die annähernd reim- und versgetreuen Übertragungen von Stefan George oder Rudolf Borchardt zu Hilfe nehmen in der Hoffnung, dort einen mehr oder weniger hellen Widerschein des Originals zu finden. Er wird dabei aber auch die Erfahrung machen, dass die immense Sprachartistik der Übersetzer nicht selten hölzern daherkommt und auf Kosten von Lesbarkeit und Verständlichkeit geht. Am besten, man macht es wie Jorge Luis Borges. Dieser berühmte Dante-Leser und -Deuter schildert im ersten Essay seiner ‚Sieben Nächte‘, der die ‚Commedia‘ zum Gegenstand hat, ein nachahmenswertes Leseidiyll: Eine Zeit lang war Borges Angestellter an einer Bibliothek in Buenos Aires. Von seiner Wohnung bis zu seiner Arbeitsstätte musste er Tag für Tag eine lange Strecke in, so schreibt er, „gemächlichen und einsamen Straßenbahnen zurücklegen“. Zufällig stieß er in einer Buchhandlung auf eine dreibändige Ausgabe der ‚Commedia‘ in handlichem Format. Sie war synoptisch angelegt und bot das italienische Original und eine englische Prosaübertragung. Er kaufte die Ausgabe und las fortan auf seinen langen Straßenbahnfahrten die ‚Commedia‘, und zwar auf folgende Weise: Zunächst nahm er sich einen Vers, eine Terzine in englischer Prosa vor, dann las er denselben Vers, dieselbe Terzine auf Italienisch. War er auf diese Weise ans Ende eines Gesangs gelangt, las er diesen im Ganzen von vorn, zuerst auf Englisch, dann auf Italienisch. Während dieser Lektüre wurde Borges klar, dass eine Übertragung das Original nicht ersetzen, wohl aber zu diesem hinführen kann. Und irgendwann bemerkte er, dass er das italienische Original einfach so lesen konnte; nur noch gelegentlich musste er einen Blick auf die Übertragung werfen.

Borges war es übrigens auch, der (in demselben Essay) behauptete, bei der ‚Commedia‘ handele es sich „keineswegs um eine schwierige Lektüre“, im Gegenteil, das Buch sei „kristallklar“. Ob man ihm hierin zustimmen kann? Nicht ohne Vorbehalt. Es sei mindestens eingewandt, dass die ‚Commedia‘, egal ob Original oder Übertragung, kein Buch ist, das man bei Gelegenheit einmal hernehmen und einfach so vom Anfang bis zum Ende durchlesen kann. Sie steht gleichsam quer zu den Lesegewohnheiten unserer Zeit. Dante, der Autor, rechnet mit einem Leser, der nicht linear vorgeht, sondern den Text und seine einzelnen Teile nachdenkend umkreist, der voranschreitet und wieder zurückgeht, um dichterische Vorgriffe und Rückbezüge zu erfassen, um bereits Gelesenes im Lichte der fortgeschrittenen Lektüre neu und anders zu bedenken. Die ‚Commedia‘ ist ein Werk, dem der Leser letztlich nur in der wiederholten Lektüre gewachsen ist. Sie zu durchdringen, kann zu einer Aufgabe werden, der man sich stellt, einem Exerzitium, dem man sich unterzieht. Wer sich aber auf solcherlei Übungen einlässt, dem wird sich nach und nach ein Universum öffnen, und für den wird dann vielleicht auch der von Borges formulierte Imperativ gelten: „Die ‚Komödie‘ ist ein Buch, das wir alle lesen müssen. Es nicht tun heißt, uns des größten Geschenks berauben, das die Literatur uns geben kann“.

Wobei es eines zu beachten gilt: keine ‚Commedia‘ ohne Kommentar. Wie auch immer man sich diesem Text annähert – früher oder später wird man Erläuterungen von berufener Seite zu Hilfe nehmen, um sich so manche Stelle erschließen zu können, die schwer verständlich erscheint. Zu komplex ist die ‚Commedia‘ und, wichtiger noch, in zu großer historischer Distanz steht sie zu uns, als dass wir sie gewissermaßen unverstellt und ohne jeden Hinweis aus zweiter Hand lesen könnten. Der russische Dichter Ossip Mandelstam, für den die Beschäftigung mit Dante und seiner ‚Commedia‘ während der finsteren Zeiten des Stalinismus ein wichtiges Antidot zur ideologischen Einschnürung des Denkens und Schreibens wurde, hätte das gern getan. Er war kein Freund einer durch Kommentare vermittelten Lektüre; ihm war weniger an einer historisierenden und sich in philologischen Details verlierenden Exegese gelegen als an einer unmittelbaren poetischen Einfühlung. Daher forderte er mit polemischer Verve in seinem um 1933 entstandenen (aber erst posthum 1967 erschienenen) ‚Gespräch über Dante‘ mit Blick auf die ‚Commedia‘, es müsse ein „echter Anti-Kommentar zur Arbeit ganzer Generationen von Scholasten, kriechenden Philologen und Pseudo-Biographen“ geschaffen werden. Gleichwohl räumte er in demselben Text ein, die ‚Commedia‘ sei ohne Kommentar nicht zu haben, vielmehr gehöre letzterer untrennbar zu ihr. „Der (erläuternde) Kommentar ist ein nicht wegzudenkendes Strukturelement der ‚Komödie‘ selber“, schreibt Mandelstam und bringt in diesem Zusammenhang eine Allegorie: „Das Wunderschiff hat bereits mit den an ihm haftenden kleinen Muscheln seine Werft verlassen.“ Sie verweist auf den Umstand, dass Dantes Werk seit frühester Zeit erläutert und kommentiert wurde, wobei Mandelstam davon ausgeht, dass die frühen Kommentierungen „dem Straßenpalaver, dem Gerücht, der florentinischen Verleumdung mit ihren vielen Mündern“ entsprangen.

Letzteres mag richtig sein, trifft den Kern der Sache aber nicht ganz. Die so schöne wie einprägsame Allegorie nämlich könnte zutreffend noch in einem anderen, zwingenderen Sinne sein, der Mandelstam nicht bewusst zu sein scheint, jedenfalls spricht er ihn nicht an: Vielleicht war es Dante höchstselbst, der den ersten Kommentar zur ‚Commedia‘ schuf, und zwar mit einem zwischen 1315 und 1318 entstandenen Schreiben an Cangrande della Scala. Die Zunft der Dante-Forscher war sich lange uneins darüber, ob man dieses Schreiben als authentisch anzusehen habe oder nicht. Unter anderem Thomas Ricklin, einer der besten Kenner der Materie, hat jedoch gute Gründe gebracht für die Annahme, dass man es tatsächlich mit einem Text aus der Feder Dantes zu tun hat. Zum einen stellt dieses in Latein verfasste Schreiben, sollte es echt sein, einen Brief dar, mit dem Dante dem Veroneser Fürsten und kaiserlichen Vikar Cangrande della Scala den dritten Teil der ‚Commedia‘, das ‚Paradiso‘, widmet. Dante hielt sich zwischen 1312 und 1318 im Umfeld dieses nicht unwichtigen oberitalienischen Provinzfürsten auf und dürfte von diesem auch finanziell unterstützt worden sein. Die Widmung des ‚Paradiso‘ an ihn kann man sowohl als eine Geste der Dankbarkeit als auch als ein Werben um weitere mäzenatische Zuwendung deuten; Dante wird wohl beides im Sinn gehabt haben.

Zum anderen ist das Schreiben auch eine Selbstauslegung des Dichters, ein – durchaus gelehrter – Traktat, der am Beispiel des ersten Gesanges des ‚Paradiso‘ verschiedene Möglichkeiten zeigt, wie man die ‚Commedia‘ lesen und verstehen kann. Man kann diese Selbstauslegung als einen Beleg dafür nehmen, dass die ‚Commedia‘ wegen ihrer Komplexität, wegen der vielen Figuren, Geschehnisse und Wissensmaterien, die sie enthält, bereits zu Lebzeiten ihres Autors als erklärungsbedürftig wahrgenommen wurde. Vielleicht wollte Dante aus diesem Grund eine Art Handreichung bereitstellen, vielleicht machte er mit diesem Schreiben auch den Versuch, der Rezeption seines Werkes eine bestimmte Richtung oder Perspektive zu geben. Wie dem auch sei, in jedem Fall ist das Schreiben an Cangrande der erste Kommentar zur ‚Commedia‘. Bereits kurz nach dem Tod des Dichters folgten ihm zahlreiche weitere (zwei davon aus der Feder von Dantes Söhnen Jacopo und Pietro), und von da an sollte die Kette der Kommentare nicht mehr abreißen. Wobei zu sagen ist, dass vom Zeitalter des Renaissance-Humanismus bis zur Aufklärung die Nachwirkung Dantes weitgehend auf Italien beschränkt blieb. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Dichter so recht eigentlich auch nördlich der Alpen entdeckt, wobei die Protagonisten der literarischen Romantik – unter ihnen die bereits erwähnten Schlegel-Brüder – eine entscheidende Rolle spielten. In der Folge erlebte die Dante-Rezeption und mit ihr die Kommentierung der ‚Commedia‘ eine enorme Blüte in ganz Europa. Man kann davon ausgehen, dass, ausgenommen die Bibel, kein Werk der abendländischen Überlieferung so häufig bedacht und besprochen wurde wie dieses. Dass ein Commedia-Kommentar nicht zwangsläufig gelehrter Ballast ist, durch den hindurch der Leser sich den Weg zum Werk freikämpfen muss, sondern ein nützliches Mittel sein kann, das auf so lehrreiche wie unterhaltsame Art zum Werk hin und über dieses hinaus zu etlichen anderen Dingen führt, die mit diesem auf verschiedenste Weise in Verbindung stehen, hat jüngst Hartmut Köhler mit dem Erläuterungsapparat bewiesen, den er seiner Übersetzung der ‚Commedia‘ zur Seite stellte.

In Abschnitt 31 des Schreibens an Cangrande wird auch der Titel von Dantes Werk erläutert. Anknüpfend an dichtungstheoretische Überlegungen, wie sie, von der griechischen und lateinischen Antike herkommend, im Mittelalter gängige Münze waren, wird sinngemäß ausgeführt, das Charakteristische an der Komödie im Allgemeinen sei, dass sie mit abstoßenden, bedrückenden oder grämlichen Dingen beginne, aber heiter und glücklich ende. Genauso sei es auch im speziellen Fall von Dantes eigener ‚Commedia‘: Diese sei zu Beginn entsetzlich und ekelhaft, weil die Hölle dargestellt werde, zum Schluss aber beglückend, angenehm und lieblich, weil das Paradies Gegenstand der Erzählung sei. Zudem wird noch eine knappe Bemerkung zu Sprache und Ton der ‚Commedia‘ gemacht, die auch den Umstand berührt, dass letztere nicht in der Gelehrtensprache Latein, sondern in der italienischen Volkssprache, näherhin ihrer speziellen Form des florentinischen Dialekts, verfasst ist: Die der ‚Commedia‘ eigentümliche Redeweise sei, passend zur Komödie, lose und von niederem Stil, eben eine gewöhnliche Sprache, in der sich auch die Weiber unterhalten.

Es ist dies eine ziemlich umstandslose Zuordnung zur Sphäre des Lustspielhaften, Unterhaltsamen, Gewöhnlichen – die man freilich nicht als absolute Größe nehmen sollte. Der ‚Commedia‘ selbst nämlich hat Dante eine Deutung eingeschrieben, die in eine andere Richtung weist: Im 23. Gesang des ‚Paradiso‘ wird sie „lo sacrato poema“, „das geheiligte Dichtwerk“ genannt (Par. 23, 62); zu Beginn des 25. Gesangs des ‚Paradiso‘ bezeichnet Dante, der Autor, hörbar in der Stimme Dantes, des Erzählers, sie gar als „il poema sacro al quale ha posto mano e cielo e terra“, als „das heilige Gedicht, an das Himmel und Erde Hand angelegt haben“ (Par. 25, 1-2). In diesen Attribuierungen macht sich die Absicht Dantes bemerkbar, die ‚Commedia‘ zum Erhabenen, Heiligen hin zu läutern, ihr den Status eines Werkes einzuschreiben, an und in dem höchste Mächte weben. Von dort ist es nur noch ein Schritt hin zum Göttlichen. Die folgenden Generationen von Lesern, Exegeten und Verlegern werden ihn tun und der ‚Commedia‘ das Attribut ‚Divina‘ – ‚Göttlich‘ – beilegen. Bereits Giovanni Boccaccio, der in den Jahren 1373 und 1374 im Auftrag der Stadt Florenz – derselben Stadt, die Dante 1302 zum Tode verurteilte – die ‚Commedia‘ öffentlich las und auslegte (und damit die in Italien und darüber hinaus bis heute lebendige Tradition der Lectura Dantis begründete), bezeichnete sie in seinem ‚Trattatello in laude di Dante‘, dem ‚Kleinen Traktat zum Lob Dantes‘, als eine „divina commedia“. Tatsächlich betitelt als ‚La Divina Comedia‘ wurde das Werk erstmals in der 1555 bei Gabriel Giolito de’ Ferrari in Venedig gedruckten Ausgabe. Seitdem spätestens gilt Dantes ‚Commedia‘ als göttlich.

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