Hier geht es zum ersten Teil.
Ein weiteres Argument gegen den Zentralismus ist ein sehr pragmatisches: Die Terrainbildung Deutschlands widerstrebt dem Einheitsstaat. Gerade aufgrund der geographischen Lage und der Verschiedenheit der (deutschen) Charaktere und Landschaften bleibt die Nachahmung des französischen Nationalstaats eben nur eine Nachahmung und nichts historisch Gewachsenes, wie Frantz richtig erkannt hat. Das deutschsprachige Gebiet ist zu sehr mit seinen Nachbarländern verflochten. Ein Einheits-oder Nationalstaat würde voraussetzen, es gebe ein homogenes „deutsches Wesen“. Doch das ist nicht der Fall.
Geographie und Geschichte deuten stattdessen auf eine föderale Verfassung und Volksvertretung hin. Die bürokratische Schöpfung eines Nationalstaats kann nie an innerem Leben gewinnen. Zu unterschiedlich bleiben die Rechtsauffassungen und Identitäten der einzelnen „Völker im Volk“. Ein Staat kann nur dann lebensfähig sein, wenn seine Bevölkerung ein lebendiges und vielfältiges Ganzes bildet.
Die Auffassung, dass Individualität und Persönlichkeit im Gegensatz zur Ideologie des Liberalismus stehen, zieht sich wie ein roter Faden durch Frantz‘ Werk. Laut Frantz bleibt eine Überwindung des Egoismus in übergeordnete, gemeinschaftliche Ziele notwendig. Der Staat als gesetzte, unveränderte Einrichtung ignoriere jedoch diese lebendigen Bestandteile der Gemeinschaft. Nach außen sollte er vor allem den Frieden sichern und nach innen Wohlstand und Kultur ermöglichen.
Was sich durch die Französische Revolution erst im 18. Jahrhundert und daraufhin in ganz Europa ausbreitete, sind primär diejenigen Werte, die noch heute unsere Philosophie und Denkweisen in Europa bestimmen. Es handelt sich im Kern um die Ideologie des Liberalismus. Nach Frantz fördert jener Liberalismus gleichzeitig auch den Zentralismus. Deshalb kritisiert er den Liberalismus grundlegend. Ebenso weit entfernt steht er allerdings von den damals gängigen Gegenmodellen, zum Beispiel dem Sozialismus oder dem restaurativen Katholizismus. Dass ein Umdenken und eine neue Politik durch den schweren Einschnitt der Französischen Revolution in die historisch gewachsenen Werte notwendig ist, verkennt Frantz nicht. Auch die soziale Frage bleibt für sein politisches Denken existenziell.
Die industrielle und individuelle Freiheit, die der liberale Staat gewährleistet, kann auf Dauer nicht kontrolliert werden, argumentiert Frantz. Somit müsse jene umfassende Herrschaft des Liberalismus entweder in einem Militärregime oder in einer Diktatur des Kapitals münden. Bereits beim bismarckschen Staatsmodell sah er diese Gewalten aus dem Ruder laufen. Denn der Staat konnte den folgenschweren Entwicklungen der Urbanisierung und Massenindustrialisierung nicht mehr Herr werden.
Die damit verbundene Entfesselung des Individuums aus seinen natürlichen Lebensbedingungen führte letztlich zur vollständigen Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt. Eine Abschwächung der Bindung zur Natur zieht nämlich zugleich eine Abschwächung der Verantwortung gegenüber der Umwelt und seinen Nächsten nach sich.
Eine neue Politik, um dieser politischen Krise entgegenzuwirken, bleibt auch heute notwendig. Doch die Alternative, die der Sozialismus bot, ist für Frantz unrealistisch:
„Eine universale Idee aus dem Reich der Phantasie ist zwecklos“
Auch ein Jahrhundert später muss man ihm in dieser Aussage uneingeschränkt zustimmen. Sein Hauptkritikpunkt- sowohl an Sozialdemokratie als auch Sozialismus ist, dass der Sozialismus die materielle Befriedigung der Massen in den Mittelpunkt stellt. Doch dabei versäume er, die Arbeit zum Wohle aller zu organisieren. Der Liberalismus vernachlässige so die Gemeinschaft und der Sozialismus das Individuum.
Veränderungen, die wie ein Sturm über Europa kamen, sowohl politische als auch industrielle, waren nicht mehr rückgängig zu machen. Neue existenzielle Fragestellungen und Probleme stellen sich nach wie vor der Politik. Den grundlegenden Fehltritt des Konservatismus sieht Frantz dennoch nicht darin, dass er auf diese Veränderungen nur reagieren und nicht agieren könne. Ihn stört vor allem, dass der Konservatismus kein konkretes Ziel oder Ideal verfolge. Doch brennende Fragen wie die soziale Frage können nicht, mangels einer besseren Alternative, unbeachtet gelassen werden. Das Althergebrachte und Gewachsene kann nur erhalten werden, wenn es sich selbst, von innen heraus verjüngt.
Es muss sich an grundlegend veränderte Umstände anpassen. Seit der Französischen Revolution entfällt für den Konservatismus allerdings die Möglichkeit, auf Grundlage seiner bewährten und historischen Herrschaftstradition zu argumentieren. Er kann keine gesellschaftlich anerkannte Norm mehr liefern. Damit wird die wichtigste Argumentationsgrundlage des Konservatismus hinfällig. Seine Forderung nach Kontinuität läuft ins Leere, da diese bereits unterbrochen scheint.
Elementar für Frantz bleibt die Idee, dass eine Gesellschaft ohne zusammenhaltende Kraft nicht existieren kann. Gemeint ist damit das Christentum. Durch eine Abkehr von den spirituellen Bedürfnissen, die in jedem Menschen vorhanden sind, würden die Pforte für neue, abstrahierte Werte geöffnet. Denn ohne eine Beziehung zum Jenseits hört das menschliche Leben endgültig auf, menschlich zu sein. Gerade diesen Aspekt hebt der Konservatismus als einzige politische Kraft hervor. So kann er für die Gesellschaft auch weiterhin wichtig bleiben.
Doch zentral ist für Franz die föderale Idee: Er versteht den Föderalismus als eine Art Symbiose aus dem historisch gewachsenen Moment, dem Konservatismus, und den neuen sozialen Bedürfnissen der Menschen. Es bleibt wichtig, „welche Fragen sich durch den Gang der Geschichte an die Gegenwart richten“, wie es der Historiker Leopold von Ranke formulierte. Deren Beantwortung hinsichtlich der einschneidenden Entwicklungen steht auch heute für die Zukunft Europas an erster Stelle.
Da Fortschritt heute als Synonym für Zentralisierung verstanden werden kann, heudeutet es indes eine Abgabe von Kompetenzen einzelner Rechtsgebilde an eine übergeordnete Institution. Dieser Entwicklung wollte Frantz ein mitteleuropäisches, föderales Bündnis entgegensetzen. Ein solcher Bund solle sich zunächst auf die Gebiete Ost- und Westdeutschland mit Einbeziehung Österreichs stützen. Primäres Ziel eines solchen Bundes müsse es sein, die wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken und nach außen den militärischen Schutz zu gewährleisten. So werde die freie Bewegung der Bürger nachhaltig gesichert.
Außerdem pflege der föderative Staat von Natur aus keine aggressiven Tendenzen, so Frantz, denn seine wichtigsten Motive seien andere als die eines zentralistischen Militärstaats. Gleichzeitig kann der Bund aber nach außen die Sicherheit aller Mitglieder sicherstellen. Nach Frantz Logik enthält dieser Bund keine Nachteile und müsse somit auch fiir die angrenzenden Länder-die kulturell ohnehin mit den bereits bestehenden verflochten sind – ein attraktives Ziel sein, sich diesem Bund anzuschließen.
Dass die Betrachtungen von Frantz rund 150 Jahre alt sind, lässt seine Kernaussagen nicht weniger schlüssig erscheinen. Doch muss die Frage danach gestellt werden, welche Punkte heute noch realisierbar sind. Welche Legitimation und welchen Nutzen könnte ein föderales Europa für unsere Zukunft haben? Frantz hat dazu die wichtigsten Fragen gestellt, die weitergedacht werden müssen.
Constantin Frantz: Der Föderalismus als universale Idee: Beiträge zum politischen Denken der Bismarckzeit. Berlin 1948.
Constantin Frantz: Deutschland und der Föderalismus. Hellerau 1917.