Constantin Frantz (1) – Europa föderalistisch denken

Constantin Frantz (1817 -1891) entwickelte im 19. Jahrhundert ein Gegenmodell zum zentralistischen Nationalstaat Otto von Bismarcks. Wer die Werke des Föderalisten und Bismarck-Gegners finden will, muss in den Bibliotheken allerdings etwas genauer hinschauen. Große Beachtung fand Frantz trotz seiner immensen inhaltlichen Vielfalt und Reichweite bis heute nicht. Noch immer gilt er als umstritten. Nichtsdestotrotz hat er ein eigenes politisches System auf Grundlage einer sozialen Idee konzipiert.

Frantz war einer der wichtigsten Gegenspieler der Politik Bismarcks und des liberalen Nationalstaat bzw. des Liberalismus im Allgemeinen, aber auch des Sozialismus und des Konservatismus. Seine Ideen können im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution oder wahlweise auch zwischen Konservatismus und Sozialismus verortet werden.

Gefährdung der Gemeinschaft durch den Nationalstaat

Ausgangspunkt von Frantz‘ Ideenwelt bleibt die Überwindung der zum Verfall führenden Moderne des 19. Jahrhunderts – namentlich des Pauperismus und der Nationalstaatsbildung. Nicht die Wirtschaft oder die Religion müsse den Staat legitimieren, sondern das Gemeinwohl, betont Frantz. Dieses Verständnis rührt aus der christlichen Soziallehren, denn sie nimmt bei Frantz eine zentrale Rolle ein und bleibt zugleich sein primärer Antrieb für die hohe Stellung des Sozialen in seiner Weltanschauung. Die Gemeinschaft, so Frantz, müsse das Ziel aller Betrachtungen sein. Trotzdem wendet er sich mit dieser Auffassung gegen andere antiliberale Christen seiner Zeit wie beispielsweise Juan Donoso Cortes. Frantz‘ Modell sieht grundlegend anderes vor: Er richtet sich gegen die Restauration und nimmt die Zeichen der Zeit an.

Laut Frantz geht die Gesellschaft, anders als bei vielen konservativen Denkern seiner Zeit, dem Staat voraus. Erst auf dieser Grundlage könne der Staat aus seinen individuellen Untergliederungen heraus zu einem lebendigem Ganzen erwachsen. Doch gerade dieses gesunde  Verhältnis sei bei dem bismarckschen Modell verschoben, argumentiert Frantz. Er kritisiert den neuen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts als „Keim der Zerstörung“, da die Interessen von oben oktroyiert würden, anstatt von unten zu wachsen. Er schließt sich jedoch nicht jener Vorstellung des Sozialismus an, der die Herrschaft der unteren Klasse und die endgültige Gleichheit  herbeiführen will.

Im zentralistischen Nationalstaat unter preußischer Vormachtstellung stünden laut Frantz lediglich die wirtschaftlichen und militärischen Interessen im Vordergrund – und eben nicht das Gemeinwohl. Doch staatliche Körperschaften repräsentierten den Willen des Volkes nicht. Frantz kann deshalb auch das Parlament nicht als legitime Volksvertretung anerkennen: Die Interessen würden zugunsten einzelner Personen verschoben. Den Parteien kommt es nicht auf Wahrheit, sondern auf Herrschaft an. Nahezu prophetisch stellt Frantz fest, dass die Herausbildung von Nationalstaaten in Europa eine Gefahr für den Frieden und die Weltstellung der europäischen Völker bedeutet. Als möglichen Gegenentwurf skizziert er das föderale System.

Diese Auffassung leitet Frantz aus seinem Verständnis der Vielfalt menschlichen Lebens ab. Prägung durch Umwelt und Sozialisation, welche die Abhängigkeit von Region, Natur und Gemeinschaften mit sich bringt, rufen ganz unterschiedliche Interessen hervor. Politik muss also aufgrund der reellen Grundlagen des Volkslebens bestimmt werden. Durch Wahlen aber kann immer nur die Minorität des Volkes vertreten werden. Denn die Diskrepanz zwischen Wählern und Abgeordneten bleibt zu groß, erkennt Frantz. Dass Hunderttausende ihren Willen auf eine ihnen unbekannte Person übertragen sollen, ist für ihn gleichbedeutend mit der Aufgabe der Persönlichkeit. Das Wahlvolk entfremdet sich damit von seinen ureigenen Interessen.

Das föderale System als Gegenmodell

Die Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 und die damit verbundene Manifestierung des Nationalstaats kann als deutsche Einigung positiv verstanden werden. Gleichzeitig bedeutete sie aber auch den Verlust der Autonomie der regionalen Staaten, die sich in diesem Gebilde zusammenfinden mussten. Die autonomen Gemeinschaften wurden so ihres eigenen Rechts beraubt und bekamen ein neues von oben vorgegeben, schreibt Frantz. Doch gerade in Deutschland sei die Diversität der Völker so groß, dass deren letztlicher Zusannnenschluss zu einer Solidargemeinschaft nie vollendet werden könne. Bereits Friedrich Wilhelm Schelling sprach von den Deutschen als einem „Volk von Völkern“. Gerade das erschwere die Einheit erheblich.

Denn der Nationalstaat entfernt durch seinen Dirigismus alle Organe, die zm Selbstbehauptung der einzelnen Gemeinden oder Völker unabdingbar sind. Da die allermeisten Menschen auch heute noch ihr Leben in ihrem Geburtsort oder zumindest in ihrer Region führen, bleibt Freiheit nach Frantz „die heimatlichen Interessen selbst zu bestimmen.“

Das wichtigste Beispiel für gelebten Föderalismus bleibt die Verbindung von Individualität und Gemeinschaft. Nur die Gemeinschaft kann Persönlichkeit hervorbringen, solange ein gewisser Freiraum im eigenen Lebensumfeld garantiert ist, der auch als unpolitischer Raum verstanden werden kann. Doch der Zentralismus verwandele langfristig die vielen Individuen mit ihren unterschiedlichen Lebensräumen in eine uniformierte Masse. Damit sind sowohl einzelne menschliche Individuen als eben auch die verschiedenen Gemeinden der deutschen Völker gemeint.

Dass die Menschen zu bloßen Rechtsobjekten werden und als eine gleichartige Masse ohne spezifische Individuen und Charaktere behandelt werden, betrachtet Frantz als Hauptproblem des zentralistischen Staates. Der Föderalismus dagegen wirkt von unten, da Organe ins Leben gerufen werden müssen, die ein Band zwischen Gesellschaft und Staat herstellen. Solche Organe können beispielsweise Berufsgemeinschaften, Gemeinden, Kreise und Landschaftsverbände sein. Sie stellen dann Vertreter auf, die sich in der Vergangenheit bereits durch Taten bewährt haben. Zugleich werden deren „vorpolitische  Räume“ geschützt.

Auf diese Weise bleibt gewährleistet, dass die Interessen der Verbände vertreten und nicht zugunsten abstrakter, zentralistischer Maßstäbe aufgelöst werden. Auch für Europa gilt heute: Eigentümlichkeiten, die gerade die Vielfalt des Kontinents ausmachen, müssen sichergestellt werden. Eine Gemeinschaft kann erst funktionieren, wenn die Eigenrechte aller Mitglieder eines Bündnisses garantiert sind.

Zur Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung ist nach Frantz kein Militär notwendig, sondern Bürger- bzw. Kreiswehren. Denn die Bevölkerung soll sich selbst schützen. Freilich wirkt dieses Konzept der einfachen und mechanisch zusammengehaltenen Nation diametral entgegen. Doch gleichzeitig bleibt die Frage offen, welche Aspekte überhaupt noch das Gefühl, zu einer Nation zu gehören, bestimmen können – wenn es nicht die Hinwendung zu einer gemeinsamen, gleichen und zentralen Idee ist.

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