Doch nicht im Zürichsee ertrunken

Nach sechsundzwanzig Jahren meldet sich der totgeglaubte Erzähler von Faserland, dem wir die schöne Wendung „SPD-Nazi“ verdanken, zurück. Diesmal erzählt uns Christian Kracht seine SPD-Nazi-Familiengeschichte.

An Christian Kracht haben Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler gleichermaßen ihre Freude wie an kaum einem anderen zeitgenössischen deutschen Schriftsteller. Als Nachfolger zu Krachts Erstling konzipiert und von Anfang an beworben, liest sich sein neuer Roman Eurotrash wie ein bizarres Spiel des Autors mit fünfundzwanzig Jahren Sekundärliteratur zu Faserland (1995): Süffisant legt der Christian Kracht einen Köder nach dem anderen aus, um die Grenzen zwischen Autor und Erzähler zu verwischen. Eine ganze Generation von Darüber-schreibenden-Lesern, die sich vollkommen ironiefrei an einem Modewort wie »Postmoderne« aufgegeilt haben, wird dabei an der Nase herumgeführt.

Christian Kracht, Eurotrash, KiWi 2021.

Das Ergebnis ist eine lyncheske Groteske; eine Parodie der deutschen vergangenheitsbewältigenden Nachkriegsliteratur, samt ihres historischen Schuldkomplexes. Es ist eine satirische Reflexion, nicht nur auf das eigene Schaffen, sondern auch jene Zeit- und Zunftgenossen Krachts betreffend, mit denen er allzu oft in einen Topf geworfen wird. Als der Rassismus-Skandal um den Imperium (2012) aufkochte, ergriff Daniel Kehlmann öffentlichkeitswirksam für Kracht Partei. Infolgedessen fielen die Namen Kracht und Kehlmann öfters in einem feuilletonistischen Atemzug; so ist es kein Wunder, dass der Erzähler von Eurotrash kurzerhand die Identität des Autors der Vermessung der Welt (2005) annimmt, als sich ihm die Chance dazu bietet.

„Wenn Per Leo mit seinem SS-Opa angeben kann, kann ich das erst recht,“ wird Kracht sich vielleicht gedacht haben, als er den Leser in jene faszinierenden Abgründe der nationalsozialistischen Geschichte führte, in denen Wahrheit und Fiktion verschwimmen wenn in isländischen Umarmungen nicht nur Runenzauber und Himalayakletterer, sondern auch Reichsflugscheiben aus dem neuschwabenländischen Ginnungagap aufsteigen.

Aber die Großväter und Väter bleiben Hintergrundstrahlung, auf die jedoch regelmäßig rekurriert wird. Hauptfigur von Eurotrash ist, neben dem Erzähler Christian Kracht, seine Mutter: Eine alte, kranke und traumatisierte, aber liebenswürdig schrullige Dame, die mit ihrem geschichtenerzählenden Sohn durch die Schweiz reist, immer hin und her zwischen Erinnerungs- und Sehnsuchtsorten, die gleichsam in Eins übergehen. Auch immer dabei ist der fremde, aber treue Taxifahrer, der möglicherweise ein übergeordneter Erzähler ist. Wie so vieles in diesem Roman bleibt aber auch diese Anspielung ein weiterer Happen für die gierigen Sekundärliteraten.

Der beschworene „unzuverlässige Erzähler“ von Faserland erinnert sich auch beim Erzählen von Eurotrash nicht mehr an alles, aber er kennt seinen frühen Roman gut genug, um die Verbindungsfäden zu spinnen: Sylt, Hamburg und München bleiben die Erinnerungs- und Sehnsuchtsorte. Auch die Barbourjacke bleibt nicht unerwähnt, das neue textile Leitmotiv ist aber ein brauner Wollpullover, hergestellt von einer Nazikommune, die sich der Neuen Germanischen Medizin verschrieben hat.

Anfangs- und Schlusswort der Romane sind in absurder Künstlichkeit auch nach sechsundzwanzig Jahren die gleichen, aber der Erzähler ist reifer geworden. Ist der erste Absatz noch reiner Faserland-Jargon, wird dieser über weite Strecken von Eurotrash zugunsten eines sehr sorgfältigen, gar sprachgewaltigen Erzählens überwunden. Auch das ein Spiel, klärt der Erzähler den Leser gelegentlich über die Produktionsbedingungen und die Konzeption jenes früheren Romans auf.

Doch nicht nur Krachts Erstling Faserland wird in das Spiel mit hineingezogen. Der Erzähler erweist sich in einer überdeutlichen Anspielung als Autor von 1979 (2001); auch die Geschichte vom Schweizer Rechtsruck, die Kracht seiner Mutter erzählt, erscheint als chirales Analogon zum alternativgeschichtlichen Ich werde hier sein, im Sonnenschein und im Schatten (2008). Zudem erinnern die nationalsozialistischen Schatten in der Erzählzeit an den ICE-Sebottendorf oder den Dönitz-Zeppelin, aus den Faserland-Drehbuch-Treatments der frühen 2000er-Jahre.

Mit Eurotrash liefert Christian Kracht einen Roman für seine Leser. Das Spiel der Anspielungen ist so dicht und geschieht so rasch, dass dem Nicht-Eingeweihten manch großartiger Witz entgehen mag. Doch selbst diesem Leser bietet sich ein Stück jener rar gewordenen zeitgenössischen deutschen Literatur, die diese Kategorie wirklich verdient. Vor den Augen jener Garde von Literaturwissenschaftlern, die den Faserland-Erzähler im Zürichsee ertrinken sahen, lässt Kracht diesen auferstehen und hält ihnen mit Eurotrash eine Deutschstunde, wie sie nur ein extravaganter Autor wie Christian Kracht schreiben kann.

Christian Kracht: Eurotrash. Kiepenheuer & Witsch, 2021. 210 Seiten. 22 Euro.

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