Es war wohl in den 10er Jahren des 21. Jahrhunderts, dass mich die Teilnahme an einer Tagung zum ersten Mal nach M. führte. Es ist ein hübsches Städtchen an dem träumerisch mäandernden Fluss L., das eine historische Altstadt mit zauberhaften Fachwerkhäusern und einem landgräflichen Schloss besitzt. Das etwas verschlafene Hotel, in dem ich abstieg, ließ mich einige Stunden warten, ehe ich mein Zimmer beziehen konnte. Ich streifte mit zunehmender Nervosität durch die hübschen Altstadtgassen und überbrückte die Zeit sogar noch mit der Besichtigung einer nahegelegenen Kirche.
Es war mir unangenehm, dass ich es durch diese Umstände nicht mehr schaffen konnte, pünktlich zur Eröffnung der Tagung zu erscheinen. Ich hatte noch ein Stück Weg zurückzulegen, bevor ich an dem hässlichen Betonbau der Universität eintraf. Geräuschlos öffnete ich die Tür zum Sitzungssaal und schlüpfte hinein. Ich orientierte mich rasch, wo der erste Vortragende sprach und drückte mich an der Wand entlang in die entgegengesetzte Richtung. Am unteren Ende der hufeisenförmigen Sitzordnung nahm ich einen freien Platz ein. Ich traf auf misstrauische, ja missbilligende Blicke. Sie galten aber nicht meinem verspäteten Erscheinen, sondern meiner Erscheinung. Ich begriff, dass es viel besser gewesen wäre, so zu kommen, wie ich aus dem Auto gestiegen war. Der Anzug und die Krawatte, derentwegen ich auf die Benutzung des Zimmers gewartet hatte, stigmatisierten mich in dieser Runde vom ersten Moment an als Fremdkörper. Kein Zweifel, ich war als Bourgeois entlarvt, bevor ich auch nur einen Ton gesagt hatte. Mein Aufzug war ein provozierender Verstoß gegen den hier herrschenden Dresscode. Ein weißer Rabe hätte nicht mehr in seinem Schwarm auffallen können.
Einen Anzug trug sonst niemand, obwohl nicht wenige der Teilnehmer Inhaber von Lehrstühlen oder altgediente Hochschulassistenten waren. Bluejeans mit echten Fransen oder fabrikneuen Löchern und ausgeleierte Cordhosen in undefinierbaren Farben bildeten das uniforme Beinkleid der Herren in vorwiegend fortgeschrittenem Alter. Darüber dominierten karierte Hemden in gedeckten Farben, abgetragene Jacketts mit Ärmelschonern oder Pullover mit dezenten Strukturen. Selbst ein paar synthetische Rollkragenpullover in ausgeblichenen Popfarben der frühen 70er Jahre waren vertreten. Von den Herren waren nicht wenige haarlos, zumindest was die Schädeldecke anging. Einige hatten die spärlichen Strähnen kreuz und quer über die Glatzen gekämmt, um selbige zu kaschieren. Bei anderen fielen die grauen Löckchen auf die Schultern oder ringelten sich im Nacken. Frisiert waren sie alle nicht. Offenbar sollte das teils wirre Haar einen Eindruck von Intellektualität hervorrufen. Die meisten lenkten vom Haupthaar durch üppige Bärte ab, die das Gesicht mehr oder weniger verbargen und vom Kinn- und Backen- bis zum Rauschebart reichten. Es gab kaum einen, dessen Jackett oder Pullover nicht von allerlei Stickern, Abzeichen oder Buttons verziert war. Am verbreitetsten waren Anti-AKW-Buttons und Peace-Zeichen, aber an einigen Revers waren auch Anstecknadeln von höchst selten gewordenen politischen Sekten zu entdecken, von denen ich schon einige für ausgestorben gehalten hatte.
Die stark vertretene Fraktion der Teilnehmerinnen, unter denen sich ebenfalls zahlreiche Professorinnen und Privatdozentinnen befanden, bot in Bezug auf die Färbung der Haare ein recht uniformes Bild. Fast alle waren hennarot, nur ein paar wenige – es war gleichzeitig die Gruppe der Ungeschminkten – stand zum ergrauten Kopfschmuck. Sie stellten die Vertreterinnen mit den kürzesten und längsten Haarschnitten, unter denen auch ein paar die Haare zu einem grauen Knoten im Nacken gewickelt hatten, während die Henna-Fraktion das breite Mittelfeld mit den halblangen Frisuren bildete. Von ihnen trugen viele selbst gestrickte weite Pullover in leicht verblichenen Lilatönen. Auch die eine oder andere Latzhose war zu entdecken. Die meisten steckten in Jeans und flachen Schuhen. Nicht wenige hatten sich auch ein Palästinenser-Tuch um den Hals geschlungen, um zugleich die Falten zu verbergen und ihre Solidarität mit der PLO zu bekunden. Die politische Dekoration mit Abzeichen hatte sich bei den Teilnehmerinnen eher auf das breite Spektrum an Handtaschen verlagert.
Als ich lautlos Platz genommen hatte, trafen mich abschätzige Blicke, die im mildesten Fall irritiert, im äußersten verachtungsvoll und empört waren. Ich versuchte sie mit freundlichem Nicken zu entschärfen und erreichte dadurch zumindest eine ostentative Ignoranz. Ich wandte also meine Aufmerksamkeit dem Redner zu, der mit hohem Aufwand an Zitationen aus sozialhistorischen Quellen und den ökonomisch-philosophischen Manuskripten von Marx sowie der hierorts einschlägigen Forschungsliteratur zu Büchner dessen avanciertes gesellschaftliches Bewusstsein rekonstruierte und ihn als radikalen Frühkommunisten klassifizierte. Rundum nickten die Köpfe wie früher die Stoff-Dackel auf den Hutablagen der Autos. Der Referent führte am Schluss sogar eine Stelle aus einem literarischen Werk von Büchner an und ließ sie effektvoll mit einem Lukács-Zitat konvergieren. Dafür erhielt er freundlichen Applaus durch Klopfen auf den Tisch.
Der Diskussionsleiter ergriff das Wort, dankte für das instruktive und anregende Referat und bat um Wortmeldungen. Der örtliche Spezialist, in dem ich das Alphamännchen der ‚fortschrittlichen‘ Büchner-Forschung erkannte, meldete sich als erster und hielt ein zehnminütiges Koreferat, das ein halbes Dutzend synonyme Marx-Zitate in die Runde warf und als Pointe zum Schluss ein neu ausgegrabenes Dokument aus einem landesgeschichtlichen statistischen Jahrbuch präsentierte, in dem die Zahl der Hungertoten im Herzogtum Hessen-Darmstadt im Erscheinungsjahr des angezogenen Büchner-Textes um sieben nach oben korrigiert wurde. Damit werde die Brisanz und Aktualität von Büchners revolutionärem Bewusstsein noch einmal in der konkreten historischen Situation zugespitzt. Einige Teilnehmer und Teilnehmerinnen ließen beeindruckt ein ‚Ah‘ oder ‚Oh‘ hören, während der Referent sich mit der Frage aus der Bredouille wand, ob Büchner von dem Dokument Kenntnis gehabt haben könne. Der Platzhirsch ließ sich davon aber nicht irritieren, sondern sagte, dass er eben diese Auskunft gerne von dem Redner bekommen wolle, der doch sicher die Quellenlage gründlich erforscht habe. Der Referent, in jeder Hinsicht so grau, dass man meinen konnte, er sei soeben erst unter einem Aktenstapel aus dem tiefsten Archivkeller hervorgekrochen, räumte ein, dass ihm das angeführte Dokument noch unbekannt, er aber höchst dankbar für den wertvollen Hinweis sei und es auf jeden Fall für die angedachte Publikation der Tagungsbeiträge angemessen berücksichtigen wolle.
Es folgten dann noch zwei, drei Wortmeldungen ähnlichen Stils, in denen der oder die jeweils Redende en passant einen Hinweis auf eine eigene vorliegende oder bevorstehende Publikation einfließen ließ, die für das gehaltene Referat noch eine vielleicht anregende Beobachtung enthalte. Der Referent bekundete seine Absicht, diesen Hinweisen nachzugehen und sie unter Abstattung eines kollegialen Danks in den Fußnoten in seine Ausführungen aufzunehmen. Nach der Wiederholung des freundlichen Applauses wurde er vom Diskussionsleiter entlassen und kehrte auf seinen Platz zurück.
Ihm folgte nun eine Referentin, die der Frage nach Büchners revolutionärem Bewusstsein unter besonderer Berücksichtigung des bisher in der bürgerlichen Forschung, aber auch von der orthodoxen marxistischen Forschung der Ex-DDR vernachlässigten Gender-Aspekts nachgehen wolle. Die Dame im fortgeschrittenen Alter suchte bei ihrem Vortrag immer wieder den Blickkontakt mit dem örtlichen Büchner-Guru, der mit einer Mischung aus Duldung und Skepsis ihrer Rede folgte. Auch sie bekam den verdienten Applaus, zu dem auch der Platzhirsch ein paar Knöchelschläge beisteuerte. Der Diskussionsleiter dankte der Referentin mit denselben, dabei die Gender-Sprachregelung beachtenden Worten wie dem Vorredner und reichte das Wort gleich an den erwartungsvoll Fixierten weiter. Dieser würdigte den interessanten Ansatz, fügte ein paar ergänzende Stellen über Frauen oder das Geschlechterverhältnis bei Büchner bei und problematisierte in einem grundsätzlichen methodologischen Exkurs die Erkenntnischancen der gewählten Perspektive. Nicht überraschend für den Kenner der Materie rief er den Begriff des Nebenwiderspruchs ins Gedächtnis der Anwesenden und pferchte mit dessen Hilfe die Tragweite des gehörten Vortrags auf ein limitiertes, freilich verdienstvolles Maß ein.
Ich begriff, dass ich mich in einer Versammlung von politischen Lemuren befand. Die Tür zu diesem Saal war eine Zeitschleuse gewesen, die mich von einem zum anderen Moment gut vierzig Jahre zurückversetzt hatte. Ich musste an Heinrich Heines Gedicht über Marie-Antoinette und ihren mechanisch die der Etikette gemäßen Verrichtungen ausführenden Hofstaat denken, von dem niemand zu registrieren scheint, dass sie alle keine Köpfe mehr haben. Hier befand ich mich allerdings unter den scheinlebendigen Mumien der Revolution.
Der dritte Vortrag folgte dem gleichen Ritual und mündete in eine Kaffeepause, wenngleich das Gebräu, das man sich einschenken konnte, diesen Namen nicht wirklich verdiente. Ich stellte mich dem Veranstalter vor und entschuldigte mein verspätetes Eintreffen. Der Diskussionsleiter der nun folgenden Sektion nahm mich zur Seite und bat um ein paar Angaben zu meiner Person, da er leider aus zeitlichen Gründen nicht dazu gekommen sei, sich selbst um die Vorstellung zu kümmern. Ich nannte die nötigsten Daten und war versucht, ein paar Mystifikationen einzustreuen, da ich mich über die fadenscheinige Entschuldigung und das Versäumnis ärgerte, nicht einmal ein Mindestmaß an Höflichkeit zu erfüllen.
Ich nahm den Platz der Referenten ein und dankte nach der Vorstellung für die Einladung. Dann hielt ich meinen Vortrag, der mit einem Blick auf die Zeugnisse über Büchners Tod endete und seine Bitte um mehr Schmerzen als eine demutsvolle Selbstkritik deutete. Der Applaus fiel recht verhalten aus, die Luft im Raum schien sich mit elektrischer Spannung aufzuladen. Eine Mauer des Schweigens wuchs mir entgegen und zernierte mich. Es gab keine Wortmeldung, das Haupt der Büchner-Forschung verschränkte demonstrativ die Arme ineinander und betrachtete interessiert die Waschbetondecke. Ich erhob mich, deutete eine Verbeugung an und begab mich zurück an meinen Platz. Es war offensichtlich, dass ich einen Tabubruch begangen und eine eherne Übereinkunft in diesem Zirkel missachtet hatte.
In der nächsten Pause suchte der Büchner-Guru und ein paar seiner Paladine meine Nähe und fragte mich, ob ich ernsthaft die Authentizität der von mir zitierten Quelle für Büchners Worte auf dem Sterbebett in Erwägung ziehen wolle. Es wäre doch wohl eher so, dass es sich entweder um eine entstellte Überlieferung oder – sollte Büchner wirklich diese Worte gesprochen haben – um eine im Fieberwahn erfolgte Äußerung gehandelt haben, die man nicht ernst nehmen könne. Ich sagte, es gäbe nicht nur revolutionäres Bewusstsein, sondern es gäbe auch Haltungen wie Demut, Empfindungen wie Todesfurcht und selbst so etwas wie religiöse Erweckung. Diese Antwort disqualifizierte mich endgültig als Teilnehmer einer Büchner-Tagung in M. Ein ironischer Kommentar sollte mir die Lächerlichkeit meiner Thesen vor Augen führen. Ich verzichtete auf weitere Argumentation und leitete aus dem Gespräch die Narrenfreiheit Valerios ab, in den folgenden Diskussionen weitere ketzerische Gedanken zu formulieren und meine genauen Textkenntnisse dazu zu nutzen, an dem fossilierten Büchner-Bild dieses verschworenen Konventikels zu rütteln. Das gelang natürlich in keiner Weise, machte mir aber eine diebische Freude.
Zur Tagung gehörte auch ein Rahmenprogramm, das die Teilnehmer am Abend in die Buchhandlung Roter Stern führte. Ich las den Namen zweimal, so unwahrscheinlich erschien es mir, dass es so etwas noch geben könne. In diesem Lokal wurde von einem Schauspieler, dem man die Zugehörigkeit zu einem Provinztheater anmerken konnte, mehr schlecht als recht die Lenz-Novelle gelesen. Ich genoss soweit es ging den revolutionären Gebrauch der Sprache.
Am nächsten Tag endete die Tagung, wie sie angefangen hatte. Der Häuptling des Stamms sprach das Schlusswort und bekräftigte die Notwendigkeit, gerade in der Gegenwart, wo die Bourgeoisie wieder ihr Haupt erhob – bei diesen Worten traf mich ein giftiger Seitenblick – an Büchners revolutionäre Überzeugung anzuknüpfen. Es gelte, seine vorausweisende materialistische Gesellschaftsanalyse mit den Erkenntnisinstrumenten des fortgeschrittenen Marxismus zu verschmelzen und zu konkretem politischem Engagement zu gelangen. Mit dieser Botschaft wurde die Gemeinde entlassen. In den Lärm des Aufbruchs hinein schlug ich vor, ob es nicht passend sei, die Tagung mit einer Grußadresse an die kubanische Regierung und den Revolutionsführer in Pjöngjang abzurunden, aber dieser Vorstoß brachte mir nur einen Rippenstoß ein.
Als ich auf dem Weg zum Hotel die Altstadt von M. durchquerte, hallten mir skandierte Parolen entgegen, deren schleppender Rhythmus mich auf eine politische Demonstration schließen ließ, wie ich sie selbst vor langer Zeit zur Genüge mitgemacht hatte. Auf dem Markt angelangt wurde ich Zeuge etlicher Solidaritätsadressen an die derzeit angesagtesten Träger des revolutionären Subjekts der Geschichte. Ich stellte zu meinem Erstaunen fest, dass es sich bei dem Saal, den ich soeben verlassen hatte, nicht um eine Enklave gehandelt hatte, sondern die selben aus der Zeit gefallenen Lemuren durch den sonnigen Herbsttag im Herzen von M. zogen. Ich setzte meinen Weg irritiert und kopfschüttelnd fort. Hinter mir erklang die Internationale. Die schmalen Altstadtgassen wirkten wie ein Schalltrichter und verstärkten den dünnen zu einem volltönenden Gesang. So blies es mich geradezu aus diesem anachronistischen Ort heraus. Ich atmete erleichtert auf, als ich eine Stunde später das zauberhafte, doch auch in ein rotes Reservat verzauberte Städtchen M. hinter mir ließ.
Einige Jahre später hatte ich Gelegenheit, mit einem bekannten österreichischen Schriftsteller zu sprechen, der in M. auf dem Höhepunkt des Sektenwesens, in das sich die Studentenbewegung aufgelöst hatte, Soziologie und Philosophie studiert hatte. Er war zu dieser Zeit selbst Mitglied oder Sympathisant einer maoistischen Splittergruppe, die sich als unfehlbare Speerspitze der Weltrevolution und Hüterin der wahren Lehre verstand. Er sagte, er sei heilfroh darüber, dass diese Sekte und er selbst damals politisch absolut ohnmächtig gewesen seien, denn er könne es keinesfalls ausschließen, dass er seinerzeit bedenkenlos der Liquidation bürgerlicher Klassenfeinde mittels Genickschuss zugestimmt oder Befehle zur Verschickung von ideologischen Abweichlern nach Sibirien beziehungsweise in die Wüste Gobi unterzeichnet hätte. Machtlosigkeit könne manchmal auch eine Gnade sein, worauf ich antwortete, das sei sie immer.