Alle Versuche, der Moderne durch alternative Denk- und Lebensansätze etwas entgegenzusetzen, beginnen letztlich beim Einzelnen und seiner Wahrnehmung der Welt. Große Gesellschaftsentwürfe führen in die Irre.
Der Materialismus dominiert unsere Grundwahrnehmung
Wer heute als junger Mensch im Europa des 21. Jahrhunderts heranwächst, der saugt in den allermeisten Fällen bereits mit der Muttermilch eine Anschauung des Lebens und der Welt auf, die von René Guénon treffend als „faktischer Materialismus“ bezeichnet wurde. Auch wenn Philosophie, Psychologie und sogar Naturwissenschaft längst nicht mehr einem rein mechanistisch-materialistischen Weltbild anhängen, wie es noch im 18. oder 19. Jahrhundert der Fall gewesen sein mag, so haben sich die Grundannahmen des materialistischen Denkens in den vergangenen Jahrhunderten derartig tief in die populäre Wahrnehmung eingenistet, dass heute praktisch alle Lebensbereiche von ihnen durchdrungen sind und das gesamte öffentliche Leben ihre Prinzipien widerspiegelt.
Das materialistische Prinzip deutet die Substanz der Welt als grundsätzlich leblos und unbestimmt. Ein unverfügbarer Sinn haftet weder der Natur noch dem Menschen an, beide beziehen ihr Sein nur aus dem jeweiligen Zweck, in den sie eingeordnet werden. Anspruch auf Realität hat ausschließlich das, was sich unseren Sinnesorganen unmittelbar, messbar darbietet. Die Welt hat Wert nur als Summe stofflicher Prozesse und nicht als Symbol einer übergeordneten Wirklichkeit – sie ist daher auch beliebig formbar und auslegbar. Das Wahre, Gute und Schöne hängt letztlich nur von individuellen oder kollektiven Vorurteilen oder Nützlichkeitserwägungen ab; der Glaube ist überflüssig, Moral nur eine Sache des Blickwinkels und die Kunst lediglich die Zurschaustellung individueller Emotion und abstrakter Hirngespinste. Die Perspektive ist beschränkt auf die zeitlich bedingten Formen des Lebens, das stetige Werden im Spiel der elementaren Kräfte, deren andauernde Gestaltwandlung auch im Zustand der Verwesung noch als „Fortschritt“ gepriesen wird.
Eine solche Grundwahrnehmung der Welt durchdringt bis heute die öffentliche Bildung, ist die erste Voraussetzung der liberalen Konsumgesellschaft sowie Kulturindustrie und bestimmt damit die alltägliche Erfahrung der meisten Zeitgenossen. Sie ist total und omnipräsent. Sich ihr entziehen zu wollen, bedeutet eine pausenlose Kraftanstrengung. Und doch steht sie in jedem Moment der Schwäche verführerisch bereit, uns wieder in ihren trüben Schleier zu hüllen. Ihre letzte Konsequenz ist der Nihilismus, wenn der Mensch schließlich die Beliebigkeit und Vergänglichkeit, die er der Welt andichtet, vollends gewahrt.
Gesamtgesellschaftliche Umwälzungen sind aussichtslos
Und doch regt sich auch heute noch in vereinzelten jungen Seelen die Sehnsucht nach dem Ewigen im Endlosen, ein Verlangen nach Sinn jenseits von Zweck, der Wunsch nach einem Leben im Vertikalen statt im Horizontalen. Was auch immer die jeweilige Ursache dafür sein mag – natürliche Begabung, besondere Erziehung oder frühe Prägung durch einschlägige Bücher, Musik, Filme, o.ä. – dort, wo dieser zunächst nur als instinktive Ablehnung der zeitgenössischen Kultur empfundene Wunsch ins Bewusstsein dringt, folgt ihm bald eine beklemmende Ahnung, die den ersten, entscheidenden Prüfstein für den erwachende Willen darstellt: Der Prozess, der den Verlust des spirituellen Mittelpunktes im Leben der europäischen Völker bedingt, wird sich nicht als Ganzes aufhalten lassen, die Zeit ihren Marsch nicht verlangsamen, das Schiff seinen Kurs nicht umkehren. Im Angesicht der Totalität und rücksichtslosen Konsequenz jener Abläufe ist nicht damit zu rechnen, dass durch die Anstrengungen einiger Weniger dem „Rad, das niederrollt“ (Stefan George), noch in die Speichen gegriffen wird und sich auf der Ebene der Politik gesamtgesellschaftliche Lösungen für die Erstarrung der europäischen Kultur und den Verlust ihrer geistigen Lebenskraft etablieren lassen. An dieser Stelle drängt sich auch die Frage auf, ob der Mensch überhaupt alleine imstande ist, in nietzscheanischer Willensanstrengung neue Werte zu erschaffen, oder ob er diese stets nur empfangen bzw. wiederentdecken kann.
„Welche Rolle man dabei einnehmen will und kann, muß jeder Einzelne selbst entscheiden“, stellt der Publizist Martin Lichtmesz in seinem, in Anlehnung an ein heideggersches Diktum betitelten Großessay „Kann nur ein Gott uns retten?“ fest: „Ab einem bestimmten Punkt, an den natürlich nur bestimmte Naturen gelangen, muß so etwas wie eine metaphysische Entscheidung getroffen werden.“ Für jenen Einzelnen, der allzu oft Vereinzelter ist, bedeutet die Erkenntnis der Unumkehrbarkeit die Schwelle, an der sich ihm zwei grundsätzliche Möglichkeiten auftun: Entweder die Hingabe an den Zerfall (zu dem auch das untätige Beklagen desselben gehört) oder aber der Schritt über die Linie: das Notwendige akzeptieren, es in seiner ganzen Tragweite begreifen und dennoch die Stellung und die Schwerter halten in treuer Pflichterfüllung, ganz ähnlich dem römischen Wachposten im untergehenden Pompeji, dessen Bild Oswald Spengler in „Der Mensch und die Technik“ beschwört. Die Pflicht ist in diesem Falle die Pflicht gegenüber sich selbst, gegenüber dem wahrhaftigen Teil der Seele, der das Ich mit unverkennbarer Stimme zur rechten Entscheidung mahnt.
Damit ist der erste Schritt aus der Horizontalität der modernen Weltwahrnehmung getan. Die Entscheidung für die aufrechte Haltung im Angesicht des Niedergangs ist das Bekenntnis zu einer Wahrheit, die sich aus einer anderen Sphäre als dem alltäglichen Leben und dessen zeitbedingten Werten speist. In einem solchen Entschluss liegt wahrhafte Souveränität und Freiheit, da er die unbedingte Bejahung einer inneren Wertsetzung darstellt, obwohl diese im totalen Widerspruch zum Erlernten steht. Hier nimmt der Einzelne seine erste Gestalt an, die ich in Anlehnung an das zitierte Kapitel von Martin Lichtmesz den „Fährtensucher“ nennen möchte. Er macht sich auf – oft alleine, bestenfalls in Begleitung weniger Vertrauter – um im Dickicht des modernen Lebens die Spuren einer anderen Wirklichkeit zu verfolgen und zu ihren Quellen vorzudringen.
Das ewige Prinzip wirkt im Einzelnen
Der Einzelne, der sich also zur persönlichen „Revolte gegen die Moderne Welt“ entschlossen hat, findet sich umstellt wieder – umstellt von Bedingungen, die seine Entscheidung verlachen und nicht ruhen, ihm die „Alternativlosigkeit“ der herrschenden (Un-)Ordnung zu verkünden. Der Fährtensucher jedoch geht unbeirrt seinen Weg.
Die Überwindung des „faktischen Materialismus“, der jedem von uns dominiert, beginnt dort, wo es uns gelingt, durch den Schleier der zeitgebundenen Formen des Lebens, die uns unmittelbar umgeben und durchdringen, zu blicken und in ihnen einen überzeitlichen Kern auszumachen, dessen Bestand nicht vom stetigen Wandel der äußeren Formen angefochten wird. Doch bevor wir uns daran machen, unsere Umwelt auf diese Weise zu durchschauen, sollten wir unsere Suche in der Sphäre beginnen, in der uns größtmögliche Souveränität zukommt: bei uns selbst. Es gilt, zu wagen, was Ernst Jünger in seinem gleichnamigen Leitfaden zum inneren Widerstand als den Waldgang bezeichnet.
Der Wald ist bei Jünger der symbolische Ort, an dem der Einzelne dem „überzeitlichen Menschen“ in sich selbst begegnet, frei von den Zwängen, die ihm seine konkrete Lebensrealität auferlegt. Dem gegenüber stellt der Autor das Leben auf dem Schiff, welches das historisch bedingte Dasein zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und insbesondere die ständige Veränderung der jeweiligen Lebensumstände, ihre Strömungen, Trends und Bewegungen, symbolisiert. Die Mission des Waldgängers sieht Jünger im „Widerstand gegen die Zeit“, welche den Einzelnen zur Überwindung der Todesfurcht und so zur entschlossenen Tat – zum Widerstand – ermächtigt. Das entscheidende Detail in Jüngers Schilderungen ist dabei gerade nicht der Widerspruch, sondern die Gleichzeitigkeit von Wald und Schiff: „Weil das Bewegte die Augen ködert, bleibt den meisten Schiffsgästen verborgen, dass sie zugleich in einem anderen Reiche weilen, in dem vollkommene Ruhe herrscht. […] Das zweite Reich ist Hafen, ist Heimat, ist Friede und Sicherheit, die jeder in sich trägt.“ Der Waldgang ist also keine Flucht aus der Zeit, sondern ein Innehalten in der Bewegung und die Erkenntnis, dass ein ewiges, unzerstörbares Leben in uns wirkt, das in jedem Augenblick und an jedem Ort bejaht und verwirklicht werden kann.
Das Schiff ist also das Treiben in der Horizontalen, der Wald die ruhende Vertikale, die in jedem Moment die Verbindung zum „stets unerschöpften Sein“ in der Tiefe und Höhe der menschlichen Seele ermöglicht. Zum Waldgänger wird derjenige, der in seinem Herzen die Kreuzung dieser beiden Ebenen erkennt, seine Abhängigkeit von den Bedingungen der Zeit löst, die Persönlichkeit im Überzeitlichen verankert und diese Entscheidung in Haltung und Gestalt verwirklicht. Wo dies gelingt, schwindet die Furcht vor der Auslöschung, da das stetige Werden und Vergehen als notwendige Bedingung anerkannt wird, der jedoch im Angesicht des Ewigen keine letztgültige Bedeutung mehr zukommt. In diesem Moment verliert auch die Dekadenz der post-modernen Welt ihren Schrecken und die Vision vom „Untergang des Abendlandes“ ihre Bedrohlichkeit. Für den Fährtensucher, der in sich den Wald gefunden hat, sind sie vor allem eines: Aufgabe und Prüfung.
Wir müssen unsere Wahrnehmung ändern
Die Jugend, die nicht aus der modernen Welt zu fliehen, sondern sie aus eigener Kraft zu überwinden sucht, muss lernen, ihre dunkeln Irrgärten zu navigieren und dabei das Sternenlicht über den sich türmenden Hecken nicht aus den Augen zu verlieren. Dafür müssen wir nicht nur Souveränität über uns selbst gewinnen, sondern vor allem eine völlig neue Wahrnehmung unserer Umwelt kultivieren. Die Ketten, die uns die moderne Welt anlegt, bestehen nicht zuerst in totalitärem politischem Zwang oder Unterdrückung, sondern vielmehr in dem geistigen Unvermögen, in der Welt und unserem Verhältnis zu ihr mehr zu erblicken, als nur die mechanische Assoziation vergänglicher Substanzen und Umstände. Um diese Fesseln zu sprengen, bedarf es einer radikalen Neuausrichtung unseres Blicks: weg von den äußeren Formen und Zwecken der Dinge und hin auf den eigentlichen Sinn und Wert, der sich in ihnen zeitweise verkörpert. Hier liegt der Schlüssel zu einer wirklich grundlegenden Kritik der Zeit und einem authentischen Neubeginn.
Auch in dieser Disziplin finden wir Unterstützung und Inspiration bei Ernst Jünger, genauer: in seinem frühen Werk Das Abenteuerlichen Herz, das uns in zwei unterschiedlichen Fassungen vorliegt (für den Gegenstand dieses Textes halte ich die erste Fassung aus dem Jahr 1929 für die angemessenere). In dieser außergewöhnliche Schrift, die sich als pulsierende Traumlandschaft von den Schlachtfeldern des soldatischen Frühwerks Jüngers abhebt, entwirft der Autor in mehreren, inhaltlich lose verknüpften Einträgen eine lebendige und „magische“ Anschauung der Welt ganz in unserem Sinn. Die jeweiligen Abschnitte beginnen meist bei der Betrachtung scheinbar profaner Situationen oder Gegenstände der Außenwelt – ein mittelalterlichen Turm, ein Korallenfisch im Aquarium oder ein von Insekten zerfressenes Blatt in den Dünen – deren Formen und Eindrücke der Autor sodann in Gleichnisse verwandelt und von ihnen ausgehend Kontemplationen von eindrucksvoller Tiefe und Schönheit entwickelt. Jüngers stets poetische und oft verschlüsselte Sprache dient dabei der Unterstreichung des Inhalts in der Form und fordert den Leser regelrecht heraus, auch den ihm vorliegenden Text mit einem tieferen Blick zu durchdringen.
Die Schlüsselbegriffe der so entwickelten Wahrnehmungslehre sind „das Wunderbare“, „der magische Schlüssel“ oder „der stereoskopischer Blick“. In ihrem Zentrum steht das bewegte Leben eines abenteuerlichen Herzens, das sich nicht mit den ausgehöhlten Formen einer atomisierten und im Bedeutungslosen gelösten, bürgerlichen Zivilisation zufrieden geben will, sondern versucht, die Welt als etwas Lebendiges, von schöpferischer Kraft Beseeltes und symbolisch Wertvolles zu begreifen. Sie lebt von der Überzeugung, dass alles Sein von einem rätselhaften Sinn durchwebt ist, der in allen Dingen wirkt und deren eigentliches, wahres Wesen ausmacht, das sich stets nur in neue Gestaltungen kleidet. „Für den, der dieses magische Verständnis einer Erscheinung gewonnen hat, tritt die Erscheinung selbst in die zweite Ordnung zurück, ähnlich wie für den, der den Hauptschlüssel eines Hauses bei sich trägt, die Schlüssel zu den einzelnen Räumen von geringer Bedeutung sind.“ Seine flammenden Appelle richtet Jünger dabei an eine Jugend, die gewaltigen Umwälzungen in ihrer Zeit gegenübersteht und des Wissens um den unmanifestierten Nährgrund ihres Daseins bedarf, um dem bevorstehenden „Angriff der Wirklichkeit gegen die Realität, des Lebens gegen seine Formen“ gewachsen zu sein.
„Diese Kunst, zu greifen, unser Tun und Lassen in wirklicheren Schichten zu bejahen, ist es, in der wir uns üben müssen, wenn wir an unserer Würde nicht verzweifeln wollen.“ – dieser Satz gilt für uns ebenso wie für die von Jünger adressierte Jugend der verklingenden Zwischenkriegszeit. Dem von Kindesbeinen an erlernten praktischen Materialismus unserer Epoche ist nur durch die praktische Übung einer anderen Wahrnehmung beizukommen. Erst, wenn wir in unseren Herzen wieder die ehrliche Bereitschaft für das Ereignis, das Wunderbare, das Ewige und das Heilige erwecken, werden sich neue Wege auftun.
„Seien wir auf der Hut vor der größten Gefahr, die es gibt – davor, daß uns das Leben etwas Gewöhnliches wird.“
Ernst Jünger