Das große Ja
In dieser Artikelserie wurde bereits von verschiedenen Voraussetzungen eines gelingenden Lebens gesprochen: vom Bedenken des Todes, von der Erkenntnis des eigenen Wesens und von der Ausrichtung auf vorläufige und letzte Ziele. Eine der wichtigsten Voraussetzungen blieb aber bislang unerwähnt: das Urvertrauen, die Zustimmung, das große Ja zu mir selbst, zu den anderen und zur Welt.
Man kann sich dem Urvertrauen vielleicht am besten negativ annähern, von der Erkenntnis seines Gegenteils her. Der gefolterte Silen rächt sich an seinem Peiniger, König Midas, indem er auf dessen Frage, was das Beste für den Menschen sei, die Antwort gibt: „Das Beste ist, nicht geboren zu sein, oder, wenn schon geboren, dann bald wieder von hinnen zu gehen.“ Auf denselben Gedanken zielt Mephistopheles in Goethes „Faust“: „Alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.“ Der Silen und Mephistopheles antworten beide mit einem entschiedenen „Nein“ auf die Frage, ob sich das Leben lohne, ob es Wert und Sinn habe. Wozu der ganze Aufwand, wenn am Ende ohnehin alles zugrunde geht, wozu all das Leid der Existenz? Es ist „much ado about nothing“, kurzes Aufflackern einer schwachen Flamme, ohne Grund und Zweck, sinnlos und absurd, vergleichbar einem langen Fall in den Abgrund des Nichts. Noch besser als die eigene Nichtexistenz wäre die Nichtexistenz der ganzen Welt.
Demgegenüber ist das, was ich hier „Urvertrauen“ nenne, das große Ja. Wer vom Urvertrauen erfüllt ist, ruft aus: Ja, das Leben lohnt sich, es hat Wert und Sinn! Es ist nicht absurd, sondern voller Güte und Schönheit. Und das trotz allem, was vordergründig dagegen spricht. Trotz aller Fehler und Mängel des Daseins, trotz Leid und Schmerz, trotz Scheitern und Versagen. Wunderbar, dass ich lebe! Wunderbar, dass die Welt existiert, dass Menschen auf der Erde wohnen und ihre Spuren hinterlassen. Wunderbar, dass etwas ist und nicht nichts.
Das Buch „Das wiedergefundene Licht“ des blinden Autors Jacques Lusseyran endet mit den Sätzen: „Die Freude kommt nicht von außen; sie ist in uns, was immer uns geschieht. Das Licht kommt nicht von außen; es ist in uns, selbst wenn wir keine Augen haben.“ Das Licht und die Freude, von denen Lusseyran spricht, sind nur andere Namen für das Urvertrauen. Dieses hängt nicht von den äußeren Umständen ab, sondern ist eine innere Haltung der Bejahung, oder – wenn man die großen Worte nicht scheut – der Liebe.
Doch warum ist das Urvertrauen eine Voraussetzung des gelingenden Lebens? Kann nicht auch ein Leben gelingen, das sich heroisch gegen die (vermeintliche) Absurdität der Existenz auflehnt? Kann man sich nicht auch Sisyphos „als einen glücklichen Menschen vorstellen“? Nein, denn Sisyphos hat allenfalls das verbissene Gesicht eines Kämpfers – nicht aber das strahlende, freudvolle Antlitz eines Menschen, der glücklich ist, weil das, was er liebt, ihm gegenwärtig ist, und dem alles gelingt, weil er zu allem Ja sagen kann. Das Glück des Kampfes gibt es zwar auch, aber nur auf dem Grund des Urvertrauens, der Bejahung des Lebens.
Ein weiterer Einwand mag sich gegen die Universalität der Bejahung richten, die im Urvertrauen realisiert ist. Ist es nicht ausreichend, manches gutzuheißen, anderes aber schlecht zu nennen? Das ist zweifellos dann richtig, wenn es nicht ums Ganze, sondern um die Teile geht. Sobald aber das Ganze der Welt und der eigenen Existenz „in Frage steht“, kann die Antwort nur ein Ja oder ein Nein zum Ganzen sein. Entweder – oder. Dass ein wahrhaft Grund-legendes Ja nicht die Blindheit für eigene Schwächen oder für die Abgründe der Welt mit sich bringt, braucht kaum eigens betont zu werden.
Man kann aber noch mehr sagen: Um uns überhaupt an etwas freuen zu können, müssen wir grundsätzlich Ja gesagt haben zur Welt und zum Leben. Nietzsche schreibt in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen: „Um Freude irgendworan zu haben, muß man Alles gutheißen.“ Ein Leben, das sich als Kampf gegen das Absurde versteht, mag im besten Falle heroisch oder tragisch genannt werden, gelingen wird es aber nicht.