Das richtige Leben im falschen (2) – Erkenne dich selbst

Eine Serie zur Lebenskunst. Hier gehts zum ersten Teil „Memento Mori“.

Die Frage nach der eigenen Identität kann ganz allgemein mit verschiedenen Menschenbildern beantwortet werden. In der Antwort der antiken Griechen, dass die Menschen (im Unterschied zu Göttern und Tieren) die „Sterblichen“ seien, ist beispielsweise sehr viel Weisheit enthalten. Andere Akzente setzt die christliche Deutung des Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes. Von dieser „idealistischen“ religiösen Auffassung setzen sich wiederum materialistische Menschenbilder ab, die den Menschen als bloße Biomaschine deuten.

Es ist auf jeden Fall hilfreich, aufgrund der Auseinandersetzung mit verschiedenen Philosophien und der Abwägung von Argumenten eine Entscheidung für ein bestimmtes Menschenbild zu treffen. Es ist nicht gleichgültig, ob ich mich als Biomaschine, als vernunftbegabtes Lebewesen oder als Geschöpf Gottes verstehe, und es wird einen großen Unterschied für mein Leben machen. Doch möchte ich den Leser hier nicht auf ein bestimmtes Menschenbild festlegen, sondern ihn nur darauf aufmerksam machen, dass eine Entscheidung notwendig ist.

Auf einer weniger abstrakten Ebene kann die Frage nach der eigenen Identität mit dem Rückgang auf Herkunft und Leiblichkeit beantwortet werden. Ich verstehe mich etwa als Angehöriger des deutschen Volkes und einer bestimmten Familie. Aus dieser Herkunft erbe ich eine bestimmte Physiognomie und bestimmte Charaktereigenschaften. In der Dimension der Leiblichkeit bin ich Mann oder Frau, groß oder klein, dick oder dünn – was ebenfalls ein nicht unwesentlicher Bestandteil meiner Identität ist.

Schließlich kann ich die Frage, wer ich sei, mit der sozialen Rolle beantworten, die ich als Angehöriger einer bestimmten sozialen Schicht oder Klasse, als Vertreter eines bestimmten Berufes, einnehme.

Die Festlegung der Identität durch ein vorgegebenes Menschenbild, eine bestimmte Herkunft und eine bestimmte soziale Rolle wird in der Moderne immer schwächer. Das ist der Grund dafür, dass Identität für viele zunehmend zum Problem wird. Der Druck, sich immerfort selbst zu „definieren“, kann Menschen überfordern und gefährdet die Stabilität sozialer Bindungen. Der Abbau von Vorgaben und Festlegungen kann aber dort Chancen eröffnen, wo Menschen früher in einem sozialen Korsett zu ersticken drohten.

Denn die obigen Antworten sind sicherlich bedeutsam und nicht falsch. Sie können aber ein Korsett bilden, in dem der so und so Definierte erstickt, statt sich im Rahmen von Vorgaben entfalten zu können. Mein Bild von dem, was ich bin, gibt mir Stabilität für das eigene Leben. Es kann mich aber auch daran hindern, mich als den zu erkennen, der ich wirklich bin.

Unversehens hat sich das Wort „wirklich“ in den letzten Satz eingeschlichen. Dieses Wort bringt die Ahnung zum Ausdruck, dass alle obigen Antworten – so berechtigt sie auch sein mögen – eben nicht den Kern dessen treffen, was ich bin. Im schöpferischen Kern jedes Menschen existiert eine Offenheit für Neuanfänge. In diesem Kern ist alles noch möglich. Diese völlig unstrukturierte Offenheit enthält aber auch eine Vorgabe für das, was uns im Leben zu verwirklichen aufgegeben ist. Christen sprechen von einem Plan, den Gott für diesen einzigartigen Menschen hat und dem dieser gerecht werden, den er aber auch in der Aktualität des Lebens und der freien Entscheidungen verfehlen, ja pervertieren kann. Dieser Gedanke ist nicht an die christliche Religion gebunden, sondern Teil der allgemein-menschlichen Weisheitsüberlieferung.

Es ist eine Aufgabe unseres Lebens, uns immer wieder die Frage nach unserem schöpferischen Kern zu stellen und uns zu fragen, ob wir ihm gerecht werden oder ob wir uns ihm durch unsere starren Bilder von uns selbst (und von anderen) entfremden. Träume können Hinweise darauf geben, ob wir dem gemäß leben, was man unseren „Wesenskern“, unsere „Vorbestimmung“ nennen könnte.

Auch in dieser Frage ist das Ende der Anfang: „Was einer ist, was einer war, / Beim Scheiden wird es offenbar“, dichtet Hans Carossa. Das heißt: Erst mit dem Tod ist das Leben abgeschlossen und ganz; erst im Tod wird erkennbar, was ich bin – und was ich war, ob also dieses Gewesene dem, was ich im Kern bin, auch wirklich entsprach. Es stellt sich also auch hier die Aufgabe, im Leben schon den Tod zu bedenken. Nur so können wir erkennen, wer wir wirklich sind. Und nur so können wir der scheinbar paradoxen Anweisung Pindars folgen: „Werde, der du bist.“

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