Eine Serie zur Lebenskunst
In dieser Artikelserie sollen Gedanken zur Lebenskunst präsentiert werden, die nicht von einer bestimmten Weltanschauung, Religion oder Konfession ausgehen. Der Schreibende ist kein Weiser vom Berge, sondern ein Zweifelnder, Suchender und manchmal ein Finder, der die Gedanken großer Geister zur Kenntnis genommen hat und sich im eigenen Leben, im trüben Wasser der Gegenwart, einen Reim darauf zu machen versucht. Im Vordergrund steht die Praxis, nicht die Theorie und das bloße Wortemachen. Wenn einmal Worte der Vergangenheit zitiert werden, dann niemals als Ballast, sondern als Wegzehrung. Die Serie ist von der Überzeugung getragen, dass – anders als Adorno meinte – auch im falschen Leben der Gesellschaft als ganzer noch ein richtiges und sinnvolles Leben des Einzelnen möglich ist.
Memento mori – Das Ende als Anfang der Lebenskunst
Am Anfang der Lebenskunst muss immer die Maxime Gottfried Benns stehen: „Erkenne die Lage!“ Wer sich mit falschen und illusorischen Vorstellungen ins Meer des Lebens hinauswagt, wird zwangsläufig irgendwann Schiffbruch erleiden. Es gilt, die Lage zu erkennen, selbst wenn diese Erkenntnis schmerzhaft und bitter ist. Ich bin davon überzeugt, dass der Mensch die Wahrheit ertragen kann, dass ihm mit der Fähigkeit, sie zu erkennen, auch die Kraft dazu gegeben ist, sie zu ertragen. Mehr noch: aus der Erkenntnis der Wahrheit kann man Kraft schöpfen, auch wenn die Wahrheit zunächst die Hoffnung und den Mut zu ersticken droht. Die Erkenntnis der Wahrheit ist fast immer bitter, aber sie ist auch eine heilsame Medizin. Sie ist der einzige Ausgangspunkt zum richtigen Leben.
Stellen wir uns vor diesem Hintergrund die Fragen: Welche unbezweifelbaren Wahrheiten gilt es zu allererst zu berücksichtigen, wenn wir unseren eigenen Weg zum richtigen Leben finden wollen? Und welche Illusionen gilt es zu allererst aufzugeben? Auch wenn vieles, ja fast alles fraglich sein oder werden mag, eines ist und bleibt unbezweifelbar gewiss: dass wir sterben werden. Und deshalb müssen wir die Illusion verabschieden, dass wir unendlich lange leben werden. Wir alle befinden uns in der Lage, dass vor uns (sei es in weiter Ferne oder in großer Nähe) der Tod liegt.
Auch wenn der Tod das Ende des Lebens ist, muss er also am Anfang der Lebenskunst stehen. Es ist nicht meine Absicht zu wiederholen, was große Geister wie Sokrates, Montaigne und Kierkegaard über den Tod gesagt haben. Aber sie alle waren sich darin einig, dass ein Bewusstsein des eigenen Todes der Anfang des richtigen Lebens ist.
Überlegen wir uns einmal, was sich ändern würde, wenn wir unendlich lange lebten. Das Leben würde seinen Glanz und seinen Zauber verlieren, würde trüb, matt und langweilig, alle Erfahrungen austauschbar. Alles versänke in Gleichgültigkeit. Mit dem Zwang sich zu entscheiden ginge auch die Lust am Handeln verloren: Wenn ich es nicht heute tue, dann eben morgen oder in hundert Jahren, oder meinetwegen auch erst in tausend.
Man könnte nun sagen: Unendlich lang ausgedehntes Leiden ist entsetzlich. Doch würde das unendlich lange Leben nicht auch die Möglichkeit bergen, die Lust unendlich lange auszudehnen? Nein, denn das Wesentliche der Lust ist ja gerade ihre Vergänglichkeit, ihr kurzes Aufflackern. Eine ins Unendliche ausgedehnte Lust wäre keine. Dasselbe gilt für die Erfahrung des Schönen, für Empfindungen der tiefen Zuneigung und der Liebe: All das gewinnt seinen Wert erst durch die Endlichkeit und wäre entwertet ohne sie.
Verliert der Tod, so gesehen, vielleicht etwas von seinem Schrecken, wird er vom entsetzlichen Henker mit scharfer Sense zum Freund des Lebendigen? Zeigt er hinter seiner fratzenhaften Maske ein freundliches Lächeln, das uns ins Leben geleitet und uns zum Handeln hier und heute anspornt? Es wäre zumindest eine Überlegung wert.
Gerade junge Menschen neigen dazu, den Gedanken an ihr unvermeidliches Ende zu verdrängen. Sie leben lieber in der Illusion ihrer Unsterblichkeit, weil sie glauben, der Gedanke an den Tod würde sie schwächen und ihnen ihre Lebenslust nehmen. Dabei könnte gerade das Gegenteil der Fall sein. Ich weiß, dass ich sterben werde – und gerade deshalb möchte ich, im Bewusstsein meiner Endlichkeit, mit größtmöglicher Intensität leben. Ich weiß, dass ich sterben werde – und gerade deshalb kann ich jeden Tag, jeden Augenblick meines Lebens besonders intensiv auskosten. Ich weiß, dass all das nicht unendlich lange andauern wird – und kann gerade darin seinen Wert erkennen. Ich weiß, dass ich einmal nicht mehr werde handeln können – und kann gerade deshalb meine Entscheidungen im Bewusstsein höchster Verantwortung fällen, im Bewusstein der Endgültigkeit jeder Entscheidung.
Statt uns unsere Lebenslust und unsere Kraft zum Handeln zu nehmen, vermehrt der Gedanke an den Tod beides. Ich muss noch heute handeln, denn morgen könnte ich bereits tot sein. Nicht morgen gilt es zu leben, nicht anderswo, sondern jetzt und hier. Das ist die Mahnung, die uns der Gedanke an den eigenen Tod immer wieder zuruft. Bleiben wir nicht taub für sie!
Beate Brossmann widmete sich mit eigenen Gedanken an dieser Stelle dem Thema Tod und Utopie.